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86 Psychische Studien. XLII. Jahrgang. 1. Heft. (Januar 1915)
schwinden. Auch die Frau des Dichters, die sehr musikalisch war,
hörte diese geheimnisvolle Musik und konnte sie bald auswendig.
Eines Tages, als sie in die Küche trat, trällerte sie leise die Melodie
vor sich hin. Erstaunt hielt sie inne, als sie die Augen des
Dienstmädchens verwundert auf sich gerichtet fühlte. Es stellte
sich heraus, daß auch das Mädchen seit langem die mystische
Musik regelmäßig nachts gehört hatte; sie erkannte die Melodie
sofort wieder. Heidestam zeichnete die Melodie auf und sandte
die Noten dem Komponisten Gejer, der nicht wenig überrascht und
betroffen war. Denn es zeigte sich bei fachmäßiger Untersuchung,
daß diese seltsame Musik sich auf einer mittelalterlichen Tonleiter
aufbaute, der sogenannten mixolydischen Tonleiter, die
weder Heidenstam noch seine Frau kannten, und von deren Existenz
beide keine Ahnung gehabt hatten. Dieses seltsame Erlebnis
erzählte Wirchow im „Merker". Zur Bekräftigung der Erscheinung
gibt er die Melodie in Noten wieder und
fügt auch einen Brief Verner von Heidenstams
bei, der die Erzählung vollinhaltlich bestätigt, und
schließlich ist er in der Lage, ein Seitenstück zu dieser rätselhaften
Musik anzuführen, für das ein Buch aus dem Jahre 1740 den Be-
leg bildet. Dieses Buch, das in Hamburg erschienen ist, führt den
Titel: „Etwas Neues unter der Sonnen, oder das unterirdische
Klippen-Concert in Norwegen, aus glaubwürdigen Urkunden auf
Begehren angezeigt von Mattheson". Dieser Mattheson war ein
vielseitiger Musiker und Musikschriftsteller; in seinem Buche teilt
er seinen Briefwechsel mit dem ihm befreundeten General Georg
v. Bertuch mit, und dieser legte ihm eines Tages eine merkwürdige
Urkunde bei, die Heinrich Meyer. „Stadtmusikant in Christiania
bei Aggerhuus" am 4. Januar 1740 unterzeichnet hat und für
deren lautere Wahrheit er sich verbürgt. Es wird darin erzählt,
wie er im Jahre 1695 bei einer Musikprobe war; ein Bauer kam
zufällig dazu, im Scherz sagte der Lehrherr: „Du bekommst
heute kein Geld für deine Butter und Milch, denn du hast genug
zugehört zurBezahlung\und hierauf erwiderte der Bauer: „Derund
der hole mich, höre ich es nicht alle Weihnacht abend viel
besser, ein klein Stück Wegs von meinem Hofe in den Klippen
daselbst." Der Lehrherr, der Kantor und der Organist lachten
den Bauern zuerst aus, dann aber gingen sie zu Weihnachten mit
ihm in eine Klippe in der Nähe Bergens, und gegen Mitternacht
hörten sie nun eine merkwürdige Musik. In der Urkunde heißt
es wörtlich: „Bald hernach fieng es im Berge zu klingen an / als
ob es nahe bey / uns wäre. Erst wurde ein Accord angeschlagen /
hernach ein gewisser Ton gegeben / um die Instrumente zu stimmen
. Hiernächst folgte das Vorspiel auf einer Orgel / und gleich
darauf wurde mit Singstimmen / Zinken / Posaunen / Violinen
und anderen Instrumenten ordentlich musicirt / ohne daß sich
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