http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1915/0076
72 Psychische Studien. XLII. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1951.)
In Anbetracht der hohen Intelligenz der Urteilenden ist eine
Irreleitung des Urteils und damit auch die Erzeugung eines nationalen
Monoideismus durch die gewöhnlichen Mittel, die sich
beim Alltagsmenschen als so wirksam erweisen, nicht anzunehmen;
nachdem sich aber das Vorhandensein dieses Zustandes aus
seinen Wirkungen erweisen läßt und die ihn kennzeichnenden
Symptome klar ersichtlich sind, so wird man sich; insofern man
überhaupt eine plausible Erklärung dieser paradoxen Erscheinung
anstrebt, nolens volens gezwungen sehen, deren Ursache in einer
psychischen Ansteckung zu suchen, wie sie durch eine anhaltende,
auf ein und denselben Gegenstand gerichtete, geistige Massenkonzentration
geschaffen wird.
Daß sich die Betreffenden nicht bewußt sind, unter dem
Zwange dieser aktuellen psychischen Macht zu handeln, ist um
nichts befremdlicher als die Tatsache, daß das unter dem Zwange
einer Suggestion handelnde Subjekt, sich dessen nicht bewußt ist,
sondern sich seine Handlungsweise aus sich selbst zu motivieren
sucht.
In das Kapitel von der „Psychologie der Massen" gehört
nicht nur die Monoideisierung des Individuums durch die von
einem Massenmonoideismus ausgehende psychische Influenz,
sondern auch die Monoideisierung der Masse durch den von einem
monoideisierten Individuum ausgehenden positiven psychischen
Einfluß.
Sowohl die eine wie die andere Art hat in der Weltgeschichte
ihre verhängnisvolle Rolle gespielt und oft haben sie sich zum
Unheile der Völker gegenseitig befruchtet. 4) Die, die „Psychologie
der Massen" betreffenden Phänomene scheinen sich auf
dieselben Prinzipien zu gründen wie jene, welche sich aus dem
magnetischen Rapport zwischen dem Operator und seinem Subjekte
ergeben, und auf einer gegenseitigen Durchdringung der
psychophysischen Emanationen ihrer Individuen zu beruhen.
Zwischen einer größeren Menge von Individuen mag sich
eine solche psychophysische Verbindung namentlich dann vollziehen
, wenn sie durch heftige und anhaltende Gemütserregungen
in einen Zustand der Exaltation gerät, wo die mit ihm verbundene
gesteigerte Emanation von Nervenkraft es ermöglicht.
Zu dem der Ekstase verwandten Zustande der Exaltation
dürften manche Rassen, vermöge ihrer Temperamentsanlage, besonders
prädisponiert sein, und trägt denn auch die Äußerung
Maeterlincks das deutliche Gepräge einer oft bis in's Komische
gehenden Schwarmgeisterei [bzw. Eitelkeit].
(* Es genügt, hier an die von Tolstoi besprochenen Tou-
louser und Pariser Veranstaltungen zu erinnern (s. Tolstoi's
„Christentum und Vaterlandsliebe*, Verlag Otto Janke, Berlin.)
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1915/0076