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78 Psychische Studien. XLII. Jahrg. 2. Heft. (Februar 19:5.)
Autorität, Gemeinschaftsgefühl, Liebe und Gottesdienst ist, da ist
eine Kirche. Ob ein eigener Priesterstand vorhanden ist,
ob es festgesetzte Zeremonien, Sakramente u.dgl. gibt, das ist Nebensache
. Wenn eine entsprechend bedeutende Persönlichkeit
vorhanden ist, da hält ihr Geist die Menschen zusammen;
es bilden sich Kultstätten und andere exoterische Dinge. Mag
der neue Geist sich zunächst in Mysteriendramen offenbaren, oder
in was immer — es ist A n d a c h t und gemeinsame Andacht führt
zu gemeinsamem Denken, Fühlen und Wollen.
So könnte man sagen, dass die Theosophische Gesellschaft
eigentlich ihren Zweck verfehlt habe und sich selbst aufhebe,
Allein dem ist nicht so. Wer sein ganzes Leben ein Skeptiker
bleiben will, wer nie zu einem Resultate, zu einem Schluss kommen
will, der kann in den zahlreichen Zeitschriften der Theosophie
volles Genüge finden und sich jeden Tag von einem Vortragenden *
das Gegenteil sagen lassen von dem, was sein Vorgänger gemeint
hat.
Aber nur wer positiv ist, wer weiss, was er will, wird
Fortschritte machen. Nur wer nach einer Richtung beharrlich
geht, kommt schliesslich zum Ziel. Der Wille ist alles. Ohne
eine gewisse Einseitigkeit kann man auf Erden nichts erreichen.
Alle grossen Führer waren in gewissem Sinne einseitig. Die Theosophie
versucht zum ersten Male eine Synthese aller Religionen
und sie hat das unsterbliche Verdienst, eine geistige
Bewegung angefacht zu haben, wie sie seit den Tagen Christi
nicht stattgehabt hat. Sie wird siegreich mit ihren Bestrebungen
die Welt erobern, aber nur dann, wenn sie versteht, die Bedürfnisse
des menschlichen Gemütes zu befriedigen. Nicht Theosophie
oder Religion darf es heissen, sondern Theosophieund
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der Schrift: „Das neue preussische Irrlehregesetz als Ansloss
zu einer esoterischen Religionsfortbildung im Protestantismus" von
Pastor A. Schall, die alle Beachtung verdient (Leipzig, 0.
Mutze, 1914): „Erst muss die esoterische Revolution im Kopie
stattgefunden haben, erst müssen die Menschen zu ganz anderen
Leuten, nämlich zu altruistischen Selbstverneinungsmenschen aus
egoistischen Selbstbejahungsmenschen geworden sein, ehe jemals
ein Gedanke an exoterische Revolutionierung des Staats- und Gesellschaftslebens
Platz greifen kann, sonst glückt sie nicht nur
nicht, sondern bewirkt lediglich um so stärkere kapitalistische, individualistische
und absolutistische Reaktion, während sie im anderen
Falle ohne jede wirtschaftlich katastrophale, kulturzerstörende
Nebenwirkung, völlig ruhig und unblutig, ja überhaupt unmerklich
in durchaus legalen Bahnen vor sich zu gehen vermag.
Oder sollte der Staat auf die Dauer der Zauberkraft des alle Gegen-
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