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98 Psych. Stud. XLII. Jahrg. 8. u. 4. Heft. (März-April 1915)
Dauphinoise in Grenoble. Da das teuere Buch nur in wenigen
numerierten Exemplaren erschien, ist es leider zu wenig bekannt
geworden.2) (Das Werk ist reich illustriert). Es führt den Leser
in die eigentliche Domäne unseres gelehrten Forschers: den Somnambulismus
. De Rochas hat hier neue Wege eingeschlagen
, und den experimentellen Beweis geliefert, daß die Geste
und die Musik die Sprache unserer Seele ist, daß in ihnen unser
Gefühlsleben (sensibilite) zum reinsten Ausdrucke kommt. Er
entdeckte im Somnambulismus die wunderbare Fähigkeit, die
menschliche Seele völlig zu isolieren und sich, gewissermaßen betreit
von den Einflüssen des Tagesbewußtseins unverhüllt zu
zeigen. Jeder Ausdruck des Gefühlslebens, Schrecken, Zorn, Liebe
und Haß, Begeisterung und tiefe Trauer wird rein, in vollendeter
Schönheit, ohne Verzerrung, wiedergegeben. Treffend sagt
Hericourt : „Der psychologische Zustand des Somnambulismus
ist der Monoideismus; die Grundidee ist souverän, mehr als
im normalen Zustand, weil sie allein vorhanden ist. Sie wird nicht
verdunkelt durch Vermischung mit anderen Ideen, die manchmal
gerade entgegengesetzter Natur sind; sie herrscht unumschränkt
......"
Oberst De Rochas hatte in L i n a ein für solche Experimente
in seltener Weise geeignetes Wesen gefunden, ein
junges Weib, das mit körperlicher Schönheit und einer junonen-
haften' Gestalt Anmut und Grazie verband. Nachdem sie in
hypnotischen Zustand versetzt war, deklamierte der Experimentator
Bruchstücke aus klassischen Tragödien und erzielte durch
diese Verbalsuggestion den entsprechenden Gefühlsausdruck der
Somnambulen in einer so naturwahren, vollendet schönen Weise,
wie er nur unseren größten Künstlerinnen nach langer Schulung
und anstrengendem Studium gelingt. Die einzelnen Stellungen
sind photographisch festgehalten und in das Werk aufgenommen.
Die schönen und interessanten Bilder sind für jeden Künstler eine
Quelle anregenden Studiums. Die Bitte der „Esther" (Racine),
„Magdalena zu Füßen des Gekreuzigten" usw. sind Beispiele hinreißender
Schönheit. Die die menschliche Seele jeweils beherrschenden
Gefühle bringt Lina ohne Anstrengung, und,wie erwähnt
, in Physiognomie und Geste in bewunderungswürdiger
Wahrheit und Größe1 zum Ausdruck.
Als De Röthas die Verbal-Suggestion durch Musik ersetzte
, zeigte sich die Wahrheit des Wortes, daß Musik die Sprache
der Seele ist. Wenn auch Lina den Inhalt der Musikstücke, der
Lieder und Rezitationen nicht kannte, brachte sie doch dieselben
zur vollendet künstlerischen Darstellung. Dies trat ganz beson-
2) Ein Exemplar besitzt die kgl. Staatsbibliothek in Münchr n.
P.
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