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Frendenberg: Der Fall Costy and das Buch Dr. Staudenmaier's. 105
Dienst in regelmäßiger Weise aus. Seine Vorgesetzten sind
mit ihm zufrieden, aber ein gewisser Umstand verdrießt ihn
selber sehr.
Seit seiner frühesten Kindheit besteht bei Costy eine wunderbare
Eigenschaft: die Fähigkeit, sobald er ein Wort liest oder
hört, genau angeben zu können, aus wieviel Buchstaben sich
dieses Wort zusammensetzt.
Mit der Zeit, indem Costy heranwuchs, hat sich dies Vermögen
mehr und mehr entwickelt.
Gegenwärtig ist es für den Wohlfahrtspolizisten eine Obsession
geworden. Ein Wort, als solches, hat für ihn keinen Sinn
mehr; es ist für ihn nur noch eine bestimmte Anzahl von Buchstaben
.
Wenn man mit Costv spricht, ist sein erster Reflex nicht,
7U verstehen, sondern zu zählen. Und dazu noch geht dies
Zählen wider seinen Willen v«or sich; ohne daß er, so zu
sagen, dabei beteiligt ist. Sobald ein Wort ausgesprochen wird,
erscheint im Geiste und auf der Zunge des Beamten die Zahl der
Buchstaben.
Ob er sich nun im Dienste oder außer Dienst befindet, berechnet
er, sobald er ein Wort liest oder hört, auf der Stelle und
ganz unwillkürlich die Zahl der Buchstaben. —
„Verstehen denn die Psychologen nichts davon?** fragten
wir ihn.
Seine Antwort, ehe er weitere Auskunft gab, war zunächst
: „38.**
In der Tat besteht dieser Satz aus 38 Buchstaben (im französischen
Text lautet die Ziffer natürlich etwas anders).
Hundertmal machten wir diesen Versuch und hundertmal
antwortete der Beamte richtig.
„Die Polizisten sind wackere Leute.** —
Zeitungssätze, Unterhaltungssätze, einfache oder, komplizierte
Anreden, der Beamte "berechnet sie alle, und man hat kaum geendet
, so gibt der Polizist schon die Totalsumme an.
Er ist sehr unglücklich darüber.
Diese verhängnisvolle Gabe verhindert ihn, zunächst den
Sinn der Worte aufzufassen. Er sieht und hört nur Ziffern. Und
wenn Menschen und Dinge sich seinem Geiste als Worte vorstellen
, so werden auch Menschen und Dinge für ihn nichts anderes
als Gesamtsummen von Buchstäbenzahlen.
Er ist von den Ziffern besessen. Sie verhindern ihn am
Schlafen, am Träumen, am Ausruhen. Überdies fürchtet Costy,
daß seine Beamtenstellung darunter leiden könnte.
Er hat daher an seine Vorgesetzten das Gesuch gerichtet,
seinen Fall kompetenten Männern zur Beurteilung vorzulegen."—
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