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Freudenberg: Streiflichter auf japanischen Kultus. 117
entfernt. Dem gewaltigen Einfluß aber, den der Buddhismus,
namentlich von seinem Hauptsitz, der alten Hauptstadt Kyoto, aus
über ganz Japan ausübt, wird dies in absehbarer Zeit wenig Abbruch
tun. Die buddhistischen Tempel und Klöster sind reich,
sehr reich. Sie besitzen geistliche Schulen und Seminarien, sie
bilden einen regelrechten Klerus heran. Die Zahl der Bonzen
reicht an 200 000, alle ausschließlich ihren geistlichen Aufgaben
gewidmet. Die Shintopriester dagegen, deren Zahl nur halb so
groß ist, muß man unter Gevatter Schuster und Handschuhmacher
suchen. Sie üben den geistlichen Beruf nur im Nebenamt aus.
Einzig bei religiösen Festen zeigen sie sich im priesterlichen Ornat.
Ihre Würde ist in bestimmten Familien erblich. Auch die buddhistische
Priesterschaft ist, was die einzelnen Personen anbetrifft,
im allgemeinen wenig geachtet, am wenigsten vielleicht die Nonnen.
Über die große Bedeutung der religiösen Feste für das Volksleben
werden wir noch später zu reden Gelegenheit haben. Überhaupt
kann nicht genug hervorgehoben werden, daß die Japaner ein
durch und durch religiöses Volk sind. Nur in den großen Industriezentren
und an den Küstenplätzen, sowie in akademischen
Kreisen machen sich, zugleich mit dem Auftauchen sozialistischer
Ideen, religionsfeindliche Strömungen bemerkbar.
Ich kann mir nicht versagen, hier dem Gedanken Ausdruck
zu geben, daß die Wendung, welche die japanische Entwicklung
seit dem Jahre 1868 genommen hat, geeignet erscheint, eine
Hauptgrundlage des Shintoismus allmählich umzustürzen, mindestens
aber zu beeinträchtigen, ich meine, den Übergang der vollen
Regierungsgewalt von den Shogunen an den Mikado. Den
letzteren hatten die Hausmaier aller weltlichen Macht entkleidet
und er residierte in seiner tausendjährigen Hauptstadt Kyoto un-
nahbar, unsichtbar, als eine mystische und fast mythische Persönlichkeit
. So lange sein Einfluß ein rein geistlicher blieb, war es
leicht, die Fiktion seiner göttlichen Abstammung aufrecht zu halten
und göttliche Verehrung, wie sie der Shinto verlangt, für ihn zu
beanspruchen. Seit der Tenno aber nach Abdankung des letzten
Shoguns -selbst die Zügel der Regierung ergriffen, seit er seinen
uralten Sitz verlassen hat, um in Tokio, wo er die ganze, wohleingerichtete
Regierungsmaschinerie seines weltlichen Vorgängers in
der Gewalt vorfand und übernahm, zu wohnen, seit er die Fühlung
mit der Öffentlichkeit nicht mehr, wie früher, vermeiden kann, seit
er — mit einem Worte — eine politische Persönlichkeit geworden
ist und deshalb auch der allgemeinen Kritik unterliegt, kann es
nach meinem Gefühl, wie sehr ihn auch Regierung und Parlament
zu decken bestrebt sein mag, nur eine Frage der Zeit sein, daß
der mysteriöse Nimbus, der bisher seine Person umgab, schwindet.
Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, erscheint die Erklärung
des Shintoismus zur Staatsreligion geradezu als eine Herausforde-
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