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Hänig: Gedanken zum Weltkrieg.
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ungsformen würde einer Rückentwickelung gleichkommen und
stünde daher mit dem Gedanken einer fortschreitenden Evolution
in direktem Gegensatze; im Gegenteil kann das Ablegen einer
Entwickelungsform an und für sich schon als Beweis gelten, daß
das betreffende Wesen dieser Form entwachsen ist
In der gesamten physischen Natur findet sich keine Analogie
für einen derartigen Vorgang, und da, wo in ihr Formenwechsel
stattfinden, wie in den Metamorphosen von Amphibien und Insekten
, da zeigt sich uns nur ein Fortschreiten von niederen zu
höheren organischen Entwicklungsformen, niemals aber die Verwandlung
einer höheren in eine niedrigere Form. (Forts, folgt)
Gedanken zum Weltkrieg.
v on H ans Hänig (Zwickau i. S.).1)
Nun ist er da, der Weltkrieg, und wir alle, die wir uns nach
den Berichten darüber, die jetzt unser ganzes Denken erfüllen,
ein Abbild von seinem Schrecken machen können, wissen, daß
er der größte aller Kriege ist, die jemals über die Welt gegangen
sind. Wer einmal später die Geschichte unserer Zeit schreiben wik
wird erstaunt sein über die ungeheuere Erwartung, die seit Jahren
über der europäischen Menschheit gelegen hat, eine Erwartung,
zu der wir bisher nur eine geschichtliche Parallele kennen: die Zeit
vor Christi Geburt. Das sind aber eben Zeiten, die einer ganz
neuen Epoche in der Geschichte der Menschheit vorausgehen.
Es ist erstaunlich, aber eben nach den Gesetzen der Geschichte
durchaus nicht wunderbar, wie in solchen Zeiten immer
wieder dieselben Erscheinungen wiederkehren. Die Gelehrten, die
in den letzten Jahrzehnten eifrig daran waren, das Wissen unseres
Zeitalters zusammenzufassen2), sind schließlich nichts anderes
\*ie die Enzyklopädisten zur Zeit des Kaisers Augustus und später,
die noch einmal daran gingen, die Erkenntnisse, die man bisher gewonnen
hatte, in gewaltigen Bänden darzustellen, oder wie die
Scholastiker des Mittelalters, welche meinten, in ihren Bücher-
schäizen der Menschheit ein ewiges Erbe von Wissenschaft hinterlassen
zu haben. Die Schwelgerei und Genußsucht der letzten
Jahrzehnte entspricht ganz den Nachrichten, die wir über die
Gastmäler der römischen Großen überliefert haben; die Ausbreitung
des Buddhismus in Europa erinnert ganz an den orientalischen
Einfluß, der zu Christi Zeiten die ererbte römisch-katholische Re-
*) Unlieb verspätet wegen Stoffandrangs! — Red.
2) Man vergleiche z. B. das monumentale Werk: „Die Kultur
der Gegenwart*, hrsg. von Hinneberg, das im Verlag von Teubner
in Leipzig erscheint.
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