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132 Psych. Stud. XLJI. Jahrg. B. u. 4. Heft. (März-April 1915.)
ist meiner nicht "wert. Aber heute herrscht leider überall
Familiensimpelei, Vetternpolitik und Nepotenherrschaft, Chauvinismus
, Strebertum und Herrschsucht. Demütig will niemand mehr
sein. Und doch betont Christus beständig die Demut. Man
sollte den Kindern, namentlich den Mädchen, von frühester
Jugend an systematisch die Demut und Bescheidenheit beibringen.
Eine Frau kann gar nicht demütig genug sein. Sie braucht weder
französisch noch englisch sprechen, weder Tennis spielen noch
Berge klettern zu können, aber zu den Armen und Kranken soll sie
gehen und jedem Menschen Sympathie zeigen und zu hellen
suchen. Sie soll, wie gesagt, völlig unpersönlich dienen,
ohne Rücksicht auf Lohn, Dank oder irgend einen Vorteil — nur
aus reiner Liebe, aus reinem Mitleid. Das ist Christusgeist.
P. M a u n o i r , ein Jesuit des 1 7. Jahrhunderts in der Bretagne
, hat folgende Aufzeichnung hinterlassen, die zeigt, wie ein
frommer Mann die Losschälung von irdischen Dingen und die
Übung der Tugend versteht:
,,Mit den Erleuchtungen und den Gnaden, die ich von oben
bekomme, werde ich die Menschen betrachten als Kinder Gottes,
als seine Freunde und seine Ebenbilder und als den Preis des
Blutes unseres Herrn Jesus Christus. So will ich denn aus diesen
Erwägungen alle lieben; aber ich will besonders diejenigen lieben,
zu denen ich weniger Zuneigung empfinden werde, wie da sind die
verlassensten Armen, die gewöhnlichen und die in sich selbst oder
durch ihre Beschäftigungen verachteten Leute, die Fremden, die
Wilden, die Leute mit schlechtem Humor, die verschlagenen Herzen
, die Undankbaren, diejenigen welche mir Böses zufügen werden
oder zufügen wollen, und ich hoffe, daß ich niemals gegen
diese Regel der vollkommenen Liebe Heuchler werde.
Die niedrigen und eigennützigen oder rein natürlichen Rück-
sichten sollen nicht der Beweggrund meiner Liebe sein. Ich will
durchaus nicht den Nächsten lieben, weil er mir Gutes getan hat,
weil er aus meinem Lande, aus meiner Bekanntschaft, Verwandtschaft
ist, weil er mich beschützt, mich ehrt, mich liebt, weil er
hübsch ist, weil er Höflichkeit, hohe Herkunft, Reichtum, Ansehen,
Wissenschaft, Anstand, Anmut, Geist, heiteres Wesen und andere
ähnliche Eigenschaften besitzt, die man in der* Welt liebt, sondern
meine Liebe zum Nächsten soll immer auf Gott gegründet sein
und sich auf seine größere Ehre beziehen ....
Die Liebe, die ich für den Nächsten habe, soll über das
Grab hinausgehen, ich will für die armen Seelen im Fegefeuer
beten, ich will ihnen alle Erleichterung zukommen lassen, wie ich
nur kann; dies soll auch eine meiner besonderen Andachten sein.
Da ich nichts anderes wünsche, als nur das Wohlgefallen Gottes,
so werde ich durch dieses erreichen, was ich wünsche; denn das
heisst Gott Freude machen, wenn man den Seelen zu Hilfe kommt,
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