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134 Psych. Stud. XLII. Jahrg. 3. u. 4. Heft. (März-April 1915.)
zur Geltung kommen. Wenn einer die Wahl hat, einem andern
nachzugeben und dabei dessen niederes Ich vielleicht zu verletzen,
so mag er dies rücksichtslos tun: er handelt als Christ, wenn er
nicht nachgibt, sondern seinem höheren Gesichtspunkt folgt. Man
kann nicht zwei Herren zugleich dienen. Man darf selbst p e -
d a n t i s c h sein in solchen Dingen, damit die Weltkinder merken,
dass sie nicht allein auf der Welt sind. Die ersten Christen haben
auch nicht den Göttern oder dem Kaiser geopfert. Man muss
wählen, zwischen „gut** und „besser**, zwischen Gott und Belial.
Aber eine reinliche Scheidung muss allmählich stattfinden.
„Ich bin nicht gekommen den Frieden zu
bringen, sondern das Schwer t**, hat der Herr
gesagt. Es sollen sich „Christus - Einungen" bilden, d. h.
freie Vereinigungen von Christusanhängern, die es sich zur Aufgabe
machen, den Christusgeist zu studieren und nach der gewonnenen
Erkenntnis zu leben. Ist Christus wirklich das treibende
Element in der Weltgeschichte, ist er wirklich der Erlöser, der
Weltenheiland, dann muss man dies auch anerkennen; dann basiert
allerdings das Glück der Gesellschaft auf ihm und der Fortschritt
ist nur denkbar im Hinblick auf seine messianischeTätig-
k e i t, die seit den Tagen seiner Himmelfahrt langsam in die Gemüter
eindringt, die die Kunst überschattet, die die Politik zu
lenken sucht, die die Erziehung verbessert, das Strafsystem reformiert
und die Wahrheit zu erkennen gibt.
Es ist nur ein Geist, aber seine Äusserungen sind verschieden
. Aber nach Einheit strebt zuletzt alles. Der Christusgeist
zeigt sich darin, dass man mehr und mehr in allen eine Einheit
sieht, oder persönlich ausgedrückt — Gott. Man dringt
nicht zur Gottheit vor ohne die Idee gesehen und ohne die
Liebe gelernt zu haben. Man kann nicht zur Einheit gelangen,
so lange man kleinlich denkt und kleinlich handelt
. Der Weltgeist mag auf einer niederen Kulturstufe seine
Berechtigung gehabt haben und da vielleicht ein Fortschritt gewesen
sein, aber von dem Momente an, wo man ein höheres
Ideal sieht, soll man diesem folgen.
Wir haben Weisheit in uns aufgenommen, der Kopf ist
voll davon; aber das Herz hat sich nach oben verschlossen und
das bischen Liebe, da£ vorhanden zu sein 'pflegt wird ausgegeben
für persönliche Zwecke, nicht für rein geistige, übersinnliche,
religiöse. Unter Liebe versteht man Geschlechts liebe.
Die Christusliebe ist etwas Anderes. Die Geschlechlsliebe führt nur
zu oft zu Hass, wenn sie nicht übergeht in eine höhere, in Freundschaft4
)
l) Es ist wahrhaft kläglich, zu sehen, wie weibliche Unverschämtheit
beständig im Steigen begriffen ist und kein Mann
mehr den sittlichen Mut hat, diesem Suffragettentum energisch ent-
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