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Grävell: Christusgeist
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Der Christusgeist wird trotz allem allmählich in uns eingehen
. Der „Sohn" belebt die inneren Körper und durch sie das
Blut. Dieses verändert sich augenscheinlich seinem Gehalte nach,
weshalb ja auch die Gebeine der Heiligen eine magische Wir-
kung ausüben und wohlriechend geworden sind. Die Seele sitzt
nach altem Glauben im Blute, weil dies so zusammengesetzt ist,
wie diese beschaffen ist. Wenn schon edle Rassen feineres Blut
haben als niedere, wie viel mehr hat ein Heiliger reines Blut! Das
Herz aber ist offenbar der künftige Sitz Christi, weil es das Organ
der Liebe ist, wie die Stelle zwischen den Augenbrauen der Sitz
Brahmas (des Vaters) sein würde, die Zirbeldrüse die Stelle, wo
der heilige Geist sein Zentrum hat. Diese drei Stellen sind unter
sich verbunden und werden durch dasselbe heilige Blut ernährt.
Auf diese Weise ist der Mensch nicht mehr vom „Fürsten dieser
Welt" besessen, sondern vom „göttlichen Bräutigam." Die Einheit
ist dann wiiklich hergestellt. Derselbe Christus, der durch mich
hindurchgeht, erleuchtet die anderen Menschen und wenn ich mir
vorstelle, dass später einmal das letzte Wort erfüllt sein wird, kann
ich mir auch heute schon alle Menschen als Glieder Christi vorstellen
.
Wenn alle Menschen versuchen würden, sich anzusehen und
zu behandeln wie Brüder und Schwestern, wäre der
Geist Christi durchgedrungen. Denn die Einheit verlangt, dass
man das gute Prinzip, Gott, in allem sieht. Das wussten schon die
Inder. Die Philosophie der V e d a n t a predigt die Einheit. Sie
ist uns willkommen. Sie ist Christusgeist. Die Weisheit der Inder
muss verschmelzen mit de* überirdischen Liebe, die Kraft des
Kopfes mit der Macht des Herzens: Dann herrscht der Logos
in uns und Einheit der Menschen in der Gottheit. Dann durchdringt
der Christusgeist die Welt, dass sie vergöttlicht wird, nach-
gegen zutreten, weil der Mann mehi als je im Banne der Geschlechtlichkeit
ist. Ueberall Hochmut — von dem kindischen Schwatzen,
das doch nur der Selbstüberschätzung sein Dasein verdankt, bis
zum Größenwahn. In meiner Jugend wußte man bei uns noch nichts
von „gnädigen* Frauen und Fräuleins, von Handkuß und allen den
schönen Errungenschaften des „dreißigjährigen Kriegs* mit seiner
geistigen Umnachtung. Letztere zeigt sich (ähnlich wie damals beim
Hexenwahn) in einer wahrhaft lächerlichen Ueberschätzung des
weiblichen Geschlechts, das angeblich unterdrückt ist. Noch keine
wahrhaft demütige Frau hat je über Unterdrückung geklagt,
wenn sie ihre Pflicht tun mußte. „Dienen lerne bei Zeiten das
Weib!* hat selbst Goethe gesagt, der immer fälschlich als der
Herold der Frauenverehrung hingestellt wird. Er wäre im Gegenteil
entsetzt, wenn er die heutige Weiberherrschaft sehen könnte,
die in völligem Gegensatze steht zur Bestimmung der Frau. Sie
soll eine Heilige sein, die durch Liebe, Mitgefühl, Geduld, Ausdauer
und Opfersinn beglückt, und soll Gott mehr lieben, als ihre
Angehörigen, sie soll übernatürlich gut sein.
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