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172 Psychische Studien. XLII. Jahrgang. 5. Heft. (Mai 1915
wachsen mit jedem Schritte, so daß wohl mitunter die Summe
der Teile zusammengenommen ein ganz anderes Bild ergibt, wie
das Ganze, das vor ihnen bestanden hat. Besonders der letzte Gedanke
ist es, der uns in der neueren Wissenschaft entgegentritt.
Man braucht nur einen Blick auf die Entwickelungslehre zu
werfen, wie sie heute nach allen den vorausgegangenen Kämpfen
aufgebaut ist: der Begriff der Entwickelung .st heute viel schwie-
riger zu fassen wie etwa zu den Zeiten, wo Darwin oder Lamarck
die Ergebnisse ihrer Forschung in verhältnismäßig einfacheren
Sätzen zusammenfaßten: an Stelle einer Theorie sind heute zehn
oder mehr getreten, wenn nicht von manchen diese Fragestellung
ganz verändert oder aufgegeben ist.*)
Auch der Okkultismus hat eine ähnliche Entwickelung durchgemacht
, wenngleich hier natürlich die Sache vielfach anders liegt
wie bei den exakten Wissenschaften. Denn der Begriff Okkultismus
ist niemals ganz einheitlich gewesen, selbst wenn man von der
zunächstliegenden Deutung (das Verborgene, d. i. das noch nicht
Erforschte) absieht. Schon das Altertum und das Mittelalter
kennen den inneren (esoterischen) und den äußeren (exoterischen)
Weg, auf dem man zur Erlangung tieferer Kenntnisse kommt, als
sie die exakten Wissenschaften zu geben vermögen. Man kann
nicht sagen, daß es zu dieser Zeit zu einer Auseinandersetzung
zwischen beiden Richtungen gekommen wäre; diejenigen, die, wie
die Mystiker des Mittelalters, den ersteren Weg gingen, waren viel
zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um etwa noch anderen Er-
kenntnismöglichkeiten nachzugehen. Erst als die moderne Theo-
sophie eine Vermittelung zwischen dieser Art von Erkenntnis und
dem, was von buddhistischen Anschauungen im Abendland bekannt
wurde, versucht hat, ist sie in Gegensatz zu dem mittlerweile
groß gewordenen Spiritismus geraten, bis wiederum der experimentelle
Okkultismus im engeren Sinne, soweit wenigstens die
Erfahrung zureicht, eine, wenn auch äußerliche Vermittelung versucht
hat.
Auf welche Weise kommt man nun in den Besitz dieser inneren
Erfahrung? Die Theosophie gibt hierauf eine doppelte Antwort:
durch den Verkehr mit einer höheren, geistigen Welt und durch
Erweckung des „inneren Christus", der in jedem Menschen lebt.
Die erste der beiden Möglichkeiten hängt mif den Anschauungen
zusammen, die die Theosophie vom Menschen und der Welt hat:
da es nach ihr drei Bewußtseinssphären gibt (die physische Sinnen -
weit, die astrale Bewußtseinssphäre und die Mentalwelt), muß die
Seele, wenn sie in der obersten der drei Sphären (dem Devachan)
i) Siehe darüber das auch für den Okkultisten sehr lesenswerte
Buch: „Die Entwicklungstheorien von Delage und Gold-
<*mith* (Verlag von Th. Thomas, Leipzig.)
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