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Kaindl: Wiederverkörperung.
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System modernen Lebens ist durch die unheimlichsten Erscheinungen
der Ungerechtigkeit und Unwahrheit verderbt und bis auf den
Punkt getrieben, wo diese nicht mehr als solche erkannt werden —
denn so lange Bill Sykes weiß, daß er ein Räuber, und Jeremy Didd-
ler, daß er ein Schurke ist, ist beiden noch etwas Himmelslicht geblieben
, — wenn aber alle stehlen, betrügen, friedlich zur Kirche
gehen, und das Licht ihres ganzen Leibes Finsternis ist, wie groß
ist dann die Finsternis! Die physische Folge jener geistigen Nieder-
trächtigkeit ist gänzliche Achtlosigkeit gegen die Schönheit des
Himmels, die Reinheit der Ströme und das Leben der Tiere und
Blumen.
Schönheitsliebe ist ein wesentlicher Bestandteil der gesunden
menschlichen Natur und, obwohl sie lange neben sonst untugendhaften
Zuständen bestehen kann, ist sie selbst durchaus gut; —
eine ausgesprochene heindin des Neides, des Geizes, der niederen
weltlichen Sorge und besonders der Grausamkeit. Wo diesen vorsätzlich
gefröhnt wird, geht sie ganz zugrunde. Die Menschen, in
denen sie am stärksten war, waren immer mitleidig, liebten die Ge-
rechtigkeit und waren die Ersten, zu erkennen und kundzutun, was
zum Glücke der Menschheit dient.'* 4)
Nichts in der Geschichte ist für den menschlichen Geist so
schmachvoll gewesen wie die Tatsache, daß wir die gewöhnlichen
Lehren der Nationalökonomie ^aufgenommen haben. Mir ist kein
früheres Beispiel in der Geschichte einer Nation bekannt, wobei
diese ein System des Ungehorsams gegen die ersten Grundsätze
ihrer anerkannten Religion begründet hätte. Die Bücher, die wir
in Worten als göttlich achten, brandmarken die Liebe zum Geld
nicht nur als die Quelle jeglichen Übels und als ein von der Gottheit
verabscheutes Götzentum, sondern sie erklären den Mammondienst
als den geraden und unversöhnbaren Gegensatz des Dienstes
Gottes; und wo immer sie von absolutem Reichtum und absoluter
Armut sprechen, verkünden sie: „Wehe dem Reichen und Heil
dem Armen4*.5) Woraufhin wir ohne weiteres eine Wissenschaft vom
Reichwerden als den kürzesten Weg zur nationalen Wohlfahrt be-
4) John Euskin: „ Mensehen untereinander" (Düsseldorf-
Leipzig, Karl Kobert Langewiesche), S. 185, 186.
r>) Matth. 19, 23, 24: „Da sprach Jesus zu seinen Jüngern:
„Wahrlich! ich sage euch: Es hält schwer, daß ein Reicher ins
Himmelreich komme. — Ja, noch einmal sage ich euch: Es ist
leichter, daß ein Kamel durch ein Nfiielöhr gehe, als daß ein
Reicher ins Himmelreich komme4; ib. 13, 22: „Der aber unter
Dornen gesäet ist, der ist es, der das Wort hört; allein die Sorge
dieser Welt und die Täuschungen des Reichtums ersticken das
Wort, das es fruchtlos bleibt"; ib 6, 24: „Niemand kann zweien
Herren dienen; denn entweder wird er den einen hassen und den
andern lieben; oder er wird sich an den einen halten und den
andern verachten. Ihr könnet nicht Gott dienen und dem Mammon";
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