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Kaindl: Wiederverkörperung. 183
um ein kleines Räderwerk zu regulieren, dann werdet ihr Standbilder
der Wissenschaft, wie sie auf Holborn Viadukt stehen, errichten
und natürlich nur größeres Räderwerk über euch anerkennen
, welches euch reguliert.** b) —
Diese Kritik des modernen Geistes werden natürlich nur jene
erfassen, denen noch etwas von ihrem Himmelslicht geblieben,
und wäre es auch nicht mehr als bei Bill Sykes und Jeremy D.dd-
ler, und nur solche vermögen daraus zu folgern, daß an dem
Zerrbilde, welches die moderne Menschheit zeigt, die Unwirksam-
keit jener inneren, unterbewußten Kraft die Schuld trägt, die, wo
sie sich frei betätigen kann, die seelische Harmonie ebenso sicher
bewirkt, wie die vis medicatrix naturae die körperliche.
Für die Wissenschaft bildet ein Individuum mit den intuitiven
und emotionellen Anlagen und Fähigkeiten eines Ruskin an
und für sich schon ein unlösbares Problem, das außerhalb der
Schranken liegt, welche sie ihrer Forschung selbst gezogen hat.
Für die Wissenschaft und ihre Anhänger kommt beim Menschen
nur sein Oberbewußtes mit seinem Egoismus und seinem Intellekte
in Betracht; alles übrige fiel der Abstraktion anheim, die sich sehr
bald in eine Negation verwandelte. Die Folge davon war, daß
alle Bedürfnisse und Ansprüche unserer inneren höheren Natur
für nichts erachtet wurden und infolgedessen verkümmern
mußten.
Da die Wurzeln der Individualität ins Unterbewußte versenkt
sind und daraus ihre besten Kräfte ziehen, so bedeutet eine Tren*
nung von diesem mütterlichen Nährboden eine Vernichtung der
Persönlichkeit und der Apostel Paulus war daher richtig inspiriert,
als er den oft zitierten, aber leider nicht beherzigten Ausspruch
tat: „Wenn ich mit Menschen- und Engelzungen redete und hätte
die Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende
Schelle. Und wenn ich alle Geheimnisse weiß und alle Erkenntnis
habe, und habe die Liebe nicht, so bin ich ein Nichts.**
Jeder Mensch weiß, daß eine Pflanze, der man ihren natürlichen
Nährboden entzog, nicht wachsen und gedeihen kann, aber er
weiß nicht, daß der Mensch, der sein Oberbewußtes, das Sekundäre
, von seinem Unterbewußten, dem Primären, isoliert, sich nicht
fortschrittlich entwickeln kann, sondern seelisch verkümmern muß;
und trotzdem glaubt er sich auf der Höhe der Entwickelung, und
zwar dank dem Verständnisse und der Beherrschung ihrer Gesetze.
Der moderne Mensch hat den Lebensnerv, der ihn mit seinem Urquell
verbindet, von Wissensdünkel und eitler Selbstvergötterung
verblendet in frevelhaftem Übermute mit Vorbedacht zerschnitten
und sucht nun die innere Armut durch äußeren Flitterstaat zu er-
8) „Wie wir arbeiten und wirtschaften müssen," Straßburg, J.
H. Ed. fleitz (Heitz u. Mündel).
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