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Bergt r: Die Metaphysik des Mikrokosmos.
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bedeutendsten und scharfsinnigsten Geister beschäftigt hat. Vielleicht
kann man sagen, es ist die Kardinalfrage der Menschheit
überhaupt. So vieler und großer Fortschritte sich das vergangene
19. Jahrhundert rühmen darf, das, was es durch die berufenen
Vertreter der Wissenschaft auf den philosophischen Lehrkanzeln
unserer Universitäten auf diesem Gebiete zutage gefördert hat, ist
nicht übermäßig ertragreich zu nennen. Wohl hat uns die Physiologie
und Biologie erfreuliche Aufschlüsse über die Organisation
und Funktion des physischen Körpers gegeben, aber das ist doch
nur ein Herumknacken an der Schale. Bis zum Kern des Menschenrätsels
ist die Wissenschaft nicht vorgedrungen, und die Präpon-
deranz des Medizinischen hat in dieser Frage direkt lähmend, zu-
rückhaltend, irreführend gewirkt.
„Erkenne dich selbst'4 — stand über dem Eingange des Tempels
zu Delphi. Das Wort ist oft mißverstanden und in der Weise
eines ziemlich platten Moralismus gedeutet worden. Es ist in
Wahrheit viel umfassender und tiefbedeutsamer, steht in Zusammenhang
mit den geheimsten und gewaltigsten Gedanken der
griechischen Mysterien und der griechischen Philosophie, und bezieht
sich auf die Konstitution des Menschenwesens, insbesondere
die Seele mit ihren wundersamen Kräften. Denn im Menschen
sind die Kräfte des Weltalls vertreten. Er ist „die kleine Welt",
der Mikrokosmos, und als solcher das unendlich verkleinerte Ebenbild
des Weltalls, des Makrokosmos. Darum, wer sich selbst
kennt, der kennt den Kosmos, wer aber das Menschenrätsel gelöst
hat, begreift das Universum.2)
1.
Besinnliche, denkende Menschen, welche es zu einer umfassenden
Lebens- und Weltanschauung gebracht haben, deuten sich
stets das Menschenwesen analog ihrem Verständnis des Weltganzen
und umgekehrt. Der heutige Durchschnittsmensch denkt materialistisch
. Ernst H a e c k e 1 ist der Prophet der modernen ungebildeten
und halbgebildeten Massen; sein materialistischer Monismus
— vielleicht auch in der feineren Abart des energetischen
Monismus Ostwalds — liegt wie ein Bann auf den Gemütern. Wozu
soll man sich denn mit der Erforschung des Menschenwesens
noch weiter abgeben, hört man es aus diesen Kreisen rufen, —
Haeckel hat ja, wie alle Welträtsel 3) so auch das Menschenrätsel
Herrn Verfassers entlehnen wir diese sehr verdienstvolle Studie
dem „Evang. Kirchenblatt für Schlesien*, 18. Jahrg. 1915, Nr. 5—8.
(Vgl. Jan.-Heft 1914, 8. 63). — Red.
2) Robert Blum: „Die vierte Dimension." Leipzig, Max Alt-
mann, 1906, S. 47. Rudolf Steiner: „Das Christentum als mystische
Tatsache/' Leipzig, Max Altmann, 1910.
3) Ernst Haeckel: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien
über monistische Philosophie. Bonn, Emil Strauß, 1903.
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