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186 Psychische Studien. XLII. Jahrgang. 5. Heft. (Mai 1915.)
endgültig und restlos gelöst. Wer in seinem Buche den 2. (philosophischen
) Teil „Die Seele" gelesen hat, dem wird endlich einmal
das Licht der Wahrheit aufgesteckt.
Wohlan hören wir, was Haeckel zu sagen hat. Die Seele ist
ihm ein Sammelbegriff für die seelischen Funktionen des Protoplasmas
. Der Teil des Protoplasmas, der als Träger der Psyche in
Frage kommt, ist das P s y c h o p 1 a s m a , eine Seelensubstanz
von bestimmter chemischer Zusammensetzung und gewisser physikalischer
Beschaffenheit, eine besondere Art der Plasmakörper,
die sämtlichen Lebensvorgängen zugrunde liegen. „Seele" ist eine
physiologische Abstraktion, wie der Begriff „Stoffwechsel" oder
„Zeugung". Ist das Psychoplasma in den einzelligen Protisten
noch sehr wenig entwickelt und oft identisch mit dem ganzen
lebendigen Protoplasma der einfachen Zelle oder einem Teil der-
selben, so ist es beim Menschen und den höheren Tieren ein diffe-
renzierter Bestandteil des Nervensystems, das Neuroplasma
der Ganglienzellen und ihrer leitenden Ausläufer. Die Arbeit des
Psychoplasmas, die wir Seele nennen, ist stets mit Stoffwechsel
verknüpft. Haeckel verfolgt die Entwickelung der Seele durch
die ganze Stufenleiter der Lebewesen bis zum Menschen hinauf,
und zeigt zum Schluß, daß die „athanistischen Illusionen" des
Menschen, und zwar der metaphysische Unsterblichkeitsglaube
ebenso wie der christliche, durch die wissenschaftliche Kritik der
letzten Dezennien definitiv widerlegt seien. Es ist eine durchaus einleuchtende
Konsequenz einer solchen „Seelenlehre", daß, wenn
die Seele nur ein Kollektivbegriff für eine Summe von Gehirnfunktionen
ist, mit dem Stagnieren der Gehirnmasse im Tode auch die
sogenannte „Seele" aufhört. —
Soweit Haeckel. Neu ist seine Botschaft jedenfalls nicht.
Seit Leukipps und Demokrits Tagen sind solche Gedankengänge
immer wieder in der Geschichte der Philosophie vorgetragen worden
, und die französische Aufklärung des 18. Jahrhunderts hat in
ihrem „Systeme de la nature" den anthropologischen Materialismus
auch schon in geschickter Weise populär gemacht. Der Arzt L a
M e 11 r i e (1 709 bis 1 751) sah den tierischen und menschlichen
Organismus (,L'homme machine', 1748) als bewegten oder sich bewegenden
Stoff an, und das Denken erklärte er auf Grund seiner
Selbstbeobachtung in den Fieberdehrien als das'Resultat körperlicher
Vorgänge; und Cabanis (1757—1808) meinte, daß
man zu den mechanischen Bewegungen noch chemische Veränderungen
annehmen müsse, aber die Vorstellung war ihm auch nichts
weiter als ein Sekret des Gehirns. Als in den 60er und 70er Jahren
des vorigen Jahrhunderts der Materialismus, durch den damals auf-
Volksausgabe. 48.-67. Tausend. S. 39-86? besonders 40 ff, 47 ff.
und 80-86.
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