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183 Psychische Studien. XLII. Jahrgang. 5. Heft. (Mai 1915.)
löst, sondern umgangen und zurückgeschoben: die Entstehung der
einfachen Sinnesempfindung und des Bewußtseins, das vernünftige
Denken und der Ursprung der Sprache.
2.
Unter den modernen akademisch Gebildeten ist die herrschende
pschologische Lehrmeinung der sogenannte psycho-
physische Parallelismus. Er behauptet auf Grund des
erfahrungsgemäß festgelegten Tatbestandes, daß den seelischen
Phänomenen des Denkens, Fühlens und Wollens bestimmte körperliche
Vorgänge im Gehirn und Nervensystem entsprechen, derart,
daß diese geistigen Vorgänge ohne gleichzeitige Tätigkeit ihrer
mechanischen Korrelate undenkbar sind, und umgekehrt rrit der
Bewegung der Gehirnteilchen psychische Phänomene untrennbar
verbunden bleiben. Die Forschungen sind größtenteils aufgebaut
auf der Beobachtung der apoplektisch Erkrankten und der Geistesgestörten
, bei denen die je nach dem Versagen oder der Entartung
der normalen Geistesleistungen gestellte Diagnose durch die
Obduktion der verstorbenen Patienten in der Erkrankung oder
Entartung der entsprechenden Gehirnteile meist bestätigt gefunden
wird 8); und vielleicht noch mehr experimentell fundamen-
tiert durch die Ausübung jener grausamen Tierfolter, die man Vivisektion
nennt, indem man an dem Versuchstiere gewisse Gehirnteile
exstirpiert und je nach den Ausfallserscheinungen die Funktion
der entzogenen herausgenommenen Partien feststellt.9) So
kann man e, als ein ziemlich sicheres Ergebnis dieser Unter-
suchungen ansehen, daß die mechanischen Korrelate für die gei-
stigen Funktionen des Sehens .hr Zentrum im Gebiet des Hinter-
hauptlappens haben, die für das Hören im Gebiete des Schläfenlappens
, die für das Fasten im Stirn- und Scheitellappen, und zwar
alternieren das Psychische und Physische für die beiden Seiten des
Individuums derart, daß z. B. Läsionen des rechten Schläfenlappens
Störungen des Hörens auf dem linken Ohr im Gefolge haben
und umgekehrt. Aber der Ton ist es, der die Musik macht, und
hier kommt es darauf an, welche Erklärung dem unbestreitbaren
Tatsachenmaterial beigegeben wird.10) Und immer wieder wird
man finden, daß die psychophysischen Parallelisfen zur Identitätshypothese
mehr oder weniger stark hinneigen.
s) Adolf KuJlmaul • „Die Störungen der Sprache." Leipzig
1877. Dazu die Arbeiten von Wernicke, Lichtheim, Goldscheider
und andere über Aphasie und dergleichen.
*') H Münk: „Ueber die Funktionen der Großhirnrinde."
Berlin 1881. 2, Aufl. 1893.
10) Die Okkultisten nehmen die Gehirnlokalisation auch an, betrachten
aber als Träger des Psychischen den vibrierenden „Astralleib",
der durch das Vetbindungsband des Aetherkörpers die mechanischen
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