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192 Psychische Stadien. XLH. Jahrgang. 5. Heft. (Mai 1915.)
das gesellschaftliche Leben litt an Unwahrhaftigkeit, es fehlten
überall die Persönlichkeiten. — Täglich lese ich Lobpreisungen
der deutschen Wissenschaft, der deutschen Kunst, der deutschen
Kultur überhaupt. Ich kann mich dem nicht bedin gungslos anschließen
. Wohl haben wir tüchtige Gelehrte, vielleicht auch
Künstler, wir haben aber s e h r w e n i g K u 11 u r. Bis in hohe
Kreise hinauf besteht eine unglaubliche Unkultur.
Das Handeln sehr weniger w.rd getragen von einer Weltanschauung
. Zahllose akademisch Geb.ldete haben von Philosophie keine
Ahnung!......"
Ich habe hier nur ein paai Sätze aus diesem Schreiben herausgegriffen
, Sätze, die meines Erachtens viel Wahres enthalten.
Müssen wir denn nicht zugeben, daß unser gesellschaftliches Leben
bisher an Unwahrhaftigkeit krankte, und daß es uns eben bisher
an dem gefehlt hat, was zum Unterschied von Entwicklung des
Intellekts als Kultur des Geistes zu bezeichnen ist?
Dieser Mangel an einer wahren Kultur des Geistes geht aber
Hand n Hand mit dem Mangel an einer einheitlichen Weltan-
schauung und einer harmonischen Entfaltung der Geistesanlagen.
Auch unter den sogenannten Gebildeten gibt es gar viele, die ungern
daran denken, daß sie ein unsichtbares, gewöhnlich Seele genanntes
Etwas besitzen, das, wie der Leib, nach leiblich stärkender
Nahrung, nach seelisch stärkender Nahrung verlangt.
Nach was für einer Nahrung verlangt denn eigentlich die
Menschenseele ^ Im tiefsten Grund \ er langt sie nach einem Wissen
, öas ihr Klarheit verschafft über dieses rätselvolle Dasein und
Wahrheit über den Sinn dieses Lebens. Die heulige Menschenseele
verlangt in dieser Beziehung im tiefsten Grunde ihres Wesens
mehr als ihr der bloße Glaube zu geben vermag. Sie zweifelt nicht
daran, daß unser Dasein einer gerechten und weisen Lenkung,
einer sittlichen Weltordnung untersteht, daran aber zweifelt sie,
daß es ihr jemals gelingen wird, den eigentlichen Sinn dieses Da-
seins zu ergründen. Und es gibt deren viele, die es geradezu für
eine Vermessenheit erklären, diesen Sinn ergründen zu wollen. Ich
möchte auch heute durchaus nicht das Wagnis unternehmen, diese
„Vermessenheit** zu begehen. Aber ich möchte doch im Anschluß
an die Erwartungen, die A. Hahn inbezug auf den geistigen Ertrag
dieses Krieges hegt, wenigstens der Hoffnung Ausdruck geben
, daß dieser Ertrag darin bestehen möchte, »daß sich in unserer
deutschen Volksseele ein starkes metaphysisches Be-
dürfnis einstellt, mit anderen Worten, ein starkes Verlangen nach
einer Lösung der vielen Rätsel, die sich uns immer aufdrängen, sobald
wir in dieses Dasein tiefer einzudringen versuchen. W i e
dieses metaphysische Bedürfnis gestillt, w i e dieses unergründbar
erscheinende Daseinsrätsel vielleicht doch noch zu lösen wäre, davon
zu reden wäre heute noch verfrüht. Denn erst muß dieses
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