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214 Psychische Studien. LXIL Jahrgang. 5. Heft. (Mai 1915.)
Dr. M. E. Gans, Zur Psychologie der Begriffsmetaphysik. 75 S. Wien
und Leipzig, Wilhelm Braumüller, k. und k. Hof- und Universitätsbuchhändler
. 1914. Preis 2 K. 40 H. (2 M.).
In stilistisch meisterhafter Darstellung und mustergiitiger
Klarheit der Beweisführung zeigt Verf., daß die psychologische
Notwendigkeit und der sinnbildlich typische Ablauf eines geistigen
Prozesses zu der logischen Folgerichtigkeit und dem Erkenntniswerte
seiner Resultate im ungekehrten Verhältnis stehen kann, eine
Wahrheit, die der Geschichtsschreiber der Philosophie immer
wieder vorbringen muß, wenn es gilt, seine Wissenschaft gegenüber
der „exakten" Forschung zu rechtfertigen unO den spöttischen
Zweifel an der Berechtigung gescbichtsphilosophischer Exegese
durch den Hinweis auf die immense Kulturwirkung philosophischer
Systeme zu parieren. Jedes metaphysische Gedankengebilde, wie
z. B. die Zahl des Pythagoras, Platon's ewige Ideen, Spinoza's Substanzbegriff
, Leibnitz' Monade, das All - Ich Fichte's ist ein „konstruiertes
" Objekt des Denkens und setzt als solches psychische
Mechanismen voraus, die aus irgend einem Grunde an der gegebenen
Realität nicht wirksam werden konnten. Die erste Aufgabe der
psychologischen Geschichtsschreibung ist es also, nach der Natur
der Bedingungen zu forschen, die ein begriffliches Hinausstreben
über die gegebene Objektwelt notwendig machen und somit erklären
. Verf. setzt sich in diesem Sinne u. a. auch mit den Vertretern
der neueren Psychologie und Psychotherapie, speziell mit
dem berühmten Wiener Psychiater Prof. Dr. Sigmund Freud and
dessen Schüler, dem unseren Lesein bekannten praktischen Nervenarzt
Dr. Stekel, in sehr fesselnden Ausführungen wirksam auseinander
. Für Kenner der altgriechischen Philosophie dürfte von besonderem
Interesse der Nachweis sein, daß die platonische Idee,
bezw. Idealzahl ein Kompromißprodakt zwischen widerstrebenden
psychischen Tendenzen war. Die Art und Weise, wie Plato der
Unruhe, dem Sturm und Drang des von lebhaften Affekten bewegten
Lebens die harmonische Geschlossenheit des affektlosen
Weisen, der unbewußt im Dunkeln tappenden Art des künstlerischen
Formens die Klarheit und Eindeutigkeit des abstrakten Denkens
entgegensetzt, zeigt ihn in seiner größten Entfernung von sich
selbst, vom Genius seiner eigenen sinnlichen, durch und durch
künstlerischen Natur. Aber schon der Versuch, die einzelnen
Stadien seiner Entwicklung in eine kontinuierliche Reihe zu
bringen, läßt erraten, wie wenig er gesinnt ist, in dem einen das
andere gänzlich aufzugeben. Man sieht, daß die Preisgabe der
Kunst zugunsten der Wissenschaft ihm nur deshalb gelang, weil
das wissenschaftliche Denken als Begreifen und Formen selbst zur
höchsten künstlerischen Leistung umgedeutet und als solche empfunden
wurde, und daß der Versuch, diese Gegensätze in einem
objektiven Gebilde des Denkens zu vereinen ,* symbolisch nur die
Art andeutet, in der Plato seinen eigenen Konflikt zum Ausgleich
zu bringen suchte. — Sehr wichtig — auch für Okkultisten — sind
weiterhin die eingehenden Erörterungen des besonders durch sein
philosophiegeschichtliches Buch über „Spinozismus" (Wien 1907)
auch in weiteren Kreisen bekannt gewordenen Verfassers über
scheinbar zwecklose, biologisch unverständliche Handlungen und
körperliche Veränderungen, z. B. hysterische Störungen psychischer
Funktionen, Tiks und sonstige symptomatische Handlungen oder
Unterlassungen, die Freud als mehr oder minder verhüllte symbolische
Darstellungen des unbewußten emotionalen Lebens, wie solche
auch in der Kunst und im Witz zutage treten, unter dem Ausdruck
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