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Kaindl: Wiederverkörperung.
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etwas hinzu tat zu diesem Recht auf Glückseligkeit, nämlich das
Mitleiden, das er mit fremden Schmerzen in jede Brust einsetzte
und durch das er zum zweiten Male seine Liebe für Glücklichwerden
aussprach.
Anstatt aber die im Mitgefühl verborgene Absicht, durch das
durch fremde Leiden erzeugte Mißbehagen zu deren Abhilfe anzuregen
, zu begreifen und zu befolgen, war der Mensch, von seinen
«goistischen Gefühlen und Bestrebungen verführt, von jeher darauf
bedacht, das ihm lästige Gefühl des Mitleids mit allen ihm zu Gebote
stehenden Mitteln zu bekämpfen und womöglich zu ertöten.
Dank dieser Bestrebnugen haben wir es heute so herrlich weit ge-
bracht, daß man in dem Mangel an natürlicher Reaktionsfähigkeit
auf fremde Leiden einen Vorzug und in dem Mitleidlosen
einen Übermenschen erblickt. Selbstverständlich ist mit dem Mitleid
auch jenes feinere Gefühl erloschen, womit der innere Mensch
auf selbst begangenes Unrecht reagiert, und worüber der davon
entblößte, von Wissensdünkel aufgeblähte Mensch der Gegenwart
sich eine Ansicht gebildet hat, zu der Shakespeare den gewissen-
losen Schurken Richard den Dritten sich bekennen läßt:
„Gewissen is* ein Memmenwort, erdacht
Zur Bändigung der Starken; Armeskraft
Sei uns Gewissen, uns Gesetz das Schwert."
Über die äußeren Folgen einer solchen auf Gewissenlosigkeit
basierten Denkungsart können uns die heutigen Vorgänge belehren
, aber der Kriegszug kommt zuletzt auch in die Seele jedes
Einzelnen, wenn mit dem Absterben der physischen Natur alle alten
Erinnerungen und mit ihnen das Mitgefühl und Gewissen wieder
aufleben, und zwar mit einer Klarheit und Stärke, welche zu
empfinden die physische Natur nicht fähig ist.
Du Prel äußert sich in seiner „Monistischen Seelenlehre** auf
Grund seiner umfassenden Kenntnis der Erfahrungstatsachen des
Somnambulismus hierüber wie folgt:
„Die Stimme des Gewissens, d. h. die Stimme des transzendentalen
Subjekts, die schon im Diesseits als eine die Empfindungsschwelle
überschreitende Mahnung uns oft leitet, wird beim Ablegen
der Leiblichkeit ihre ganze ursprüngliche Stärke erhalten,
beim Rückblick auf unser irdisches Leben zur ungehemmten Geltung
kommen. Wir können vor diesem Richterstuhle nur so weit
zu bestehen hoffen, als wir dieses Leben im Sinne und zum Vorteil
des transzendentalen Subjekts angewendet haben.*' Und in
seiner „Philosophie der Mystik" sagt er in bezug hierauf: „Gesteigerte
Erinnerung, mit Vorstellungsverdichtung verbunden, er-
möglicht bei Sterbenden einen vollkommen klaren panoramatischen
Überblick über das vergangene Leben. In dieser Weise ist wohl
jenes Schuldbuch zu verstehen, das uns, wie die Bibel sagt, im
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