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276 Psychische Studien. XLII. Jahrgang. 7. Heft. (Jali 1915.)
Schlußfolgerungen : Der Schwerpunkt, den Professor
Hyslop als Folgerung aus diesen Studien zieht, liegt in der
feststehenden Tatsache, daß die Wissenschaft nicht den Weg der
Religionen gehen kann. Die Wissenschaft sucht die Wahrheit —
Wünsche und Neigungen sind für sie nicht maßgebend. Nicht die
Frage der Glückseligkeit ist ihre erste Liebe, sondern die Wahrheit,
gleichviel ob diese das Glück bringt oder nicht.
Die Wissenschaft, sagt Professor Hyslop treffend, hat das
Temperament des Stoikers. Der Konflikt zwischen Wissenschaft
und Religion ist der Konflikt zwischen Tatsache und Fiktion,
Philosophie und Dichtkunst, Realismus und Ideal ismus, Genuß der
Gegenwart und Erwartung der Zukunft.
Wer die Gegenwart genießt, wird sich nicht so viel um die
Zukunft bekümmern, wer aber in der Gegenwart keine Befriedigung
findet, hofft und wendet sich der Phantasie zu. Manchen gibt das
Reale und Tatsächliche volle Befriedigung. Andere wünschen mit
der Hoffnung zu leben, zu gewinnen, was glücklichere Naturen
wirklich gefunden haben. Diesem Konflikt begegnen wir in allen
Gebieten menschlicher Tätigkeit. Er trennt die Schulen der Literatur
, der Philosophie, die politischen Parteien, selbst die v.issen-
schaftlichen Richtungen und die Religionen. Der religiöse Sinn
bedarf de. Dichtkunst, nicht der Tatsachen. Er verwirft die
schlechte Natur des menschlichen Lebens und erwartet die Glückseligkeit
in einer immateriellen Weit, obschon er diese Welt als
Simulacrum der materiellen nimmt. Er glaubt, daß das goldene
Zeitalter um der Sünde willen verloren wurde, und daß es nur jenseits
des Grabes wiedergefunden wird. Daher hängt er sich an die
Hoffnung und hält das gegenwartige Leben für notwendigerweise
sündhaft und voll von Leiden.
Anders die Wissenschaft. Sie hält sich nur an die Tatsachen
. Ihre Methode hat mit jener des Mittelalters gebrochen.
Unter ihrer Führung betrachten wir die Welt als eine Reihe von
Tatsachen, als einen Strom von Geschehnissen, deren Beobachter
wir sind. Das an uns in Stunden. Tagen, Jahren und Jahrhunderten
vorüberziehende Panorama zeigt uns, was bestehend, permanent
ist, und was vorübergehend. Es ist aber das erstere, was
für uns entscheidend ist, denn es ist eben das, was wir das
Naturgesetz nennen — und die Naturgesetze kennen zu
lernen, muß unser erstes und eifrigstes Bestreben sein. Was
.permanent* ist, ist auch entscheiend für die
Zukunft. Wenn wir das „Bleibende** erforschen und erkennen,
was vergänglich ist, dann werden wir das erringen, was wirklich
als wertvoll angesehen werden muß. Daher hat Professor James
sehr recht, wenn er behauptet, daß der radikale Empirismus die
einzige Quelle der Wahrheit ist.
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