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Ludwig: Die stigmatisierte Tertiarin Maria Beatrix Schuhmann. 289
Auch die prophetische Vorschau ist nichts, was der christlichen
Mystik ausschließlich eigen wäre35) und ob der Seherin
bestimmt kundgegebene Meinung, daß wir in den letzten Zeiten
leben,36) als eine wahre prophetische Vorschau zu werten ist, das
dürften wohl die wenigsten annehmen. Der sog. seelische Rapport
aber, die Telepathie und Telekinesie sind etwas so bestimmt Nachgewiesenes
, daß ich einfach auf die von mir zitierte okkultistische
Literatur verweise.37). —
III.
Nach all dem Vorerwähnten ist es fast selbstverständlich, daß
auch die Vision im Leben der leidenden Jungfrau eine bedeutende
Rolle spielte. Aber auf diesem heiklen Gebiete muß
man mit dem Prädikat „übernatürlich** ganz besonders vorsichtig
und zurückhaltend sein denn meist sind die Visionen nichts als
Halluzinationen, Produkte der Einbildungskraft und des körperlichen
Organismus, die hervorgerufen werden können durch
starke psychische Erregung, sei es poetische, kriegerische oder
religiöse, durch Liebe und Sehnsucht, aber auch durch Blutverlust
, durch Hunger, durch strenge Aszese und fortgesetzte Kontemplation
. So hatten Mohammed, Luther, Goethe Halluzinationen,
der Dichter Otto Ludwig hatte eine solch' visionäre Kraft,38) daß
ihm seine poetischen Gebilde zu sichtbaren Gestalten wurden von
manchmal quälender Deutlichkeit. Allerdings kann es auch
Realvisionen geben, denen eine objektive Wirklichkeit zugrunde
liegt, aber sie lassen sich nicht ohne Schwierigkeit als
solche erkennen. Hat doch schon Görres39) seine warnende
Stimme erhoben, indem er daiauf hinwies, daß selbst echte
„höhere** Visionen neben dem übernatürlichen auch ein natürliches
Element in sich tragen, weil die aufnehmende Persönlichkeit den
Irrtum nicht entrückt ist. Und vor solcher Täuschungsmöglichkeit
schütze auch nicht die Frömmigkeit des Schauenden, namentlich
, wenn es sich um Individuen weiblichen Geschlechts von
starker Phantasie handle. Darum seien solche Visionen den Theologen
auch dann kein sicheres Zeichen höheren Ursprungs, wenn
sie mit Ekstase, mit körperlicher Erhebung von der Erde, mit
innerer Erhebung und Süße verbunden seien. Und Zahn40) hat
nicht unterlassen, zu betonen,* daß auch in den Visionen, die im
Leben der Heiligen berichtet werden und selbst in kirchlich approbierten
Sammlungen ihrer Gesichte sich Irrtümliches finden könne.
Als Illustration dazu stellt er dann selbst eine Reihe solcher Irrtümer
zusammen, wonach z. B. einige der Seherinnen behaupteten,
Christus sei mit drei Nägeln gekreuzigt worden, während andere
wissen wollten, daß vier dazu verwendet wurden; nach Maria von
Agreda lebte Maria noch 21 Jahre nach der Himmelfahrt des
Herrn, nach Kath. Emmerich nur noch 13, nach Brigitta 15, nach
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