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290 Psychische Studien. LXII. Jahrgang. 7. Heft. (Juli 1915.)
Elisabeth v. Schönau 11 L> Jahre. Es kommt vor, daß eine Visio-
närin die andere desavouiert; so behauptet K. Emmerich, daß in
den Gesichten der M. Agreda sich Irrtümer fänden, während ihre
eigenen Visionen mit dem biblischen Bericht in einer Reihe von
Punkten in Spanung stehen.41) Die Schauungen dieser frommen
Personen kleiden sich eben in das Zeitgewand, in eigene Erinnerungen
und die Anschauungen der Umwelt. Darum sieht auch
K. Emmerich die Apostel bereits in „Meßgewändern" zelebrieren
vor einem „Tabernakel" und ..Ziborium" und hat in die Provenienz
des Abendmahlkelches alles Mögliche hineingeheimnist. Der Biograph
der Maria Schuhmann legt nun großes Gewicht darauf, daß
zwischen ihren Visionen über das Leiden Jesu und denen der
K. Emmerich „eine beinahe an Identität grenzende sachliche Übereinstimmung
" bestehe. Nie aber habe che Kranke Schriften
Emmerichs42) gelesen noch auch sich daraus vorlesen lassen. Ein
Vergleich ergibt in der Tat oft eine solch auffallende Übereinstimmung
bis in Nebenumstände, daß man sich fragt, ob nicht
doch die Leidende früher manches aus den Visionen der Nonne
von Dülmen hörte, aber längst vergessen hatte (denn der Verfasser
sagt ja selbst: „sie hatte für derlei Visionen kein Gedächtnis.
Was sie früher geschrieben, davon wußte sie später nichts mehr"),
während in der Ekstase die Erinnerung aus den Tiefen des Unterbewußtseins
wieder emporstieg. Niemand wird aber wohl an eine
Realvision denken, wenn sie erzählt,48) daß ihr Herz aus ihrem
Leibe genommen, von Christus gereinigt und dann durch Maria
ihr wieder zurückgestellt wurde, daß die Fesselung ihrer Hände
mehr war als Halluzination,44) und ebenso auch die dämonischen
Schauergestalten, die vor ihren Augen alle Arten greulichster Unzucht
verübten. Wenn sie in der Faschingszeit lüsterne Musik,
lockende Tanzweisen, obszöne Gesänge hörte,45) so können das
recht gut dramatisch gestaltete Erinnerungen aus ihrer Dienstzeit
gewesen sein, in der sie ja Zeugin gar manchen unsittlichen Auftritts
sein mußte, wie die Biographie selbst schildert.
Was aber über ihre geistige Vermählung mit Christus gesagt
wird,4**) das macht stark den Eindruck, daß man es da mit einer
Art Transfiguration des weiblichen Liebesbedürtnisses zu tun hat,
d. h. einer Umwandlung und Verklärung des Sexuellen in Mystisch-
Religiöses.47) Wie leicht es bei religiös stark erregbaren Frauen
zu Gesichts*- und Gehörshalluzinationen kommen kann, das habe
ich in den „Neuen Untersuchungen über den Pöschlianismus" geschildert
,48) daß nämlich die aszetische Lektüre und die religiösen
Gespräche mit Pfarrer Pöschl sich allmählich bei Magdalena
Sickinger zu Gesichts- und Gehörshalluzinationen verdichteten.
Sie sah Christus in ihrem Herzen von Engeln umgeben und vernahm
eine aus ihrem Innern tönende Stimme, die sich wie ein
Orakel befragen ließ. Besondere „Offenbarungen" hatte sie, wenn
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