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Kaindl: Wieder Verkörperung
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Lebhaftigkeit, mit welcher der Abschied von der Geliebten sein
Gefühl im Traum ergriff, erweckte ihn. (Splittgerber: „Schlaf und
Tod", LS. 101.)
Bei unbefangener Betrachtung derartiger Phänomene von
retrospektiver Deuteroskopie wird man die Überzeugung gewinnen,
daß das irdische Leben des Menschen durch einen solchen Abschluß
, den man nicht unpassend das letzte Gericht genannt hat,
erst eine erzieherische und moralische Bedeutung erhält, die es an
und für sich nicht besitzt. Diese Tatsache gibt auch dem Dichter
recht, wenn er sagt:
„Der Tod hat eine reinigende Kraft,
In seinem unvergänglichen Palaste
Zu echter Tugend reinem Diamant
Das Sterbliche zu läutern und die Flecken
Der mangelhaften Menschheit zu verzehren.*'
Ein solches Selbstgericht wird sich auch in den verzweifeltsten
Fällen bewähren, wo alle anderen Mittel versagen; ja es beweist
sogar die endgiltige Überwindung der äußeren sinnlichen Natur
des Menschen durch seine innere geistige. In Anbetracht dessen
wird man, wofern man sich überhaupt durch Tatsachen und die
Macht der Gründe bestimmen läßt, die Idee der Reinkarnation aufgeben
müssen, so schwer dies auch jenen fallen mag, welche den
Glauben nähren, daß Atheisten, Monisten, Positivisten, Materialisten
und vielleicht sogar Anthroposophen und Theosophen ein
zweites Erdenleben dazu benützen würden, ihre sinnlichen Leidenschaften
und Triebe zu veredeln.
Abgesehen davon, daß sich gewiß niemand unterfangen
würde, einen solchen Erfolg zu verbürgen, wäre eine beständige
Wiederkehr von Aufgeklärten dieser Art auch schon deshalb nicht
wünschenswert, weil alsdann zu befürchten stünde, daß die Menschheit
sich auch fürderhin in die traurige Lage versetzt sehen würde,
Absurditäten wie die folgenden von maßgebender Seite als ernsthafte
Erklärungen hinzunehmen: „Aristoteles bezeugt schon, daß
einer, der schwache Geister in den Augen hat, seine Person öfters
in der Luft wie in einem Spiegel erblicken könne. Dann sehen
manche Leute doppelt, welches dem Gesicht ebenfalls ein großes
Hindernis ist. Schielende und übersichtige Leute sehen auch nicht
allezeit recht, und am besten im Dunkeln. Ferner, wenn man
plötzlich aus der Sonne ins Dunkle, oder aus der Finsternis jählings
an das Licht kommt, pflegt einem auch ein Nebel und zuweilen
auch allerhand Gestalten vor den Augen hin und her zu schweben.
Vielleicht hat sich bei den Bergschotten auch ein Mal oder etliche
Mal etwas dergleichen ereignet, da denn der Aberglaube, die
Furcht und die Einbildungskraft hernach dazu gekommen, und
ohneweiteres solche Seher mit dem anderen Gesicht erdichtet
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