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Quade: TJeber die Existenz und die Eigenschaften Gottes. 305
allmählich und gaben in der Tierreihe schließlich mit einem zentralen
Nervensystem ausgestattete Lebewesen. Deren letztes und
höchstes [auf der Erde] ist der Mensch. Er hat die Gebundenheit
, welche die Werkzeugbildung mit den eigenen Körperorganen
und die automatischen Instinkthandlungen bei den Tieren zur notwendigen
Folge haben, zum großen Teil überwunden, mit einem
Denkorgan, dem Gehirn, das ihm Werkzeuge außer sich benutzen
und auf jede Veränderung der äußeren Umstände mit Überlegung
reagieren lehrte. Es wäre aber schlechthin unverständlich, daß
ein Gott, der das Psychisch-Biologische völlig beherrschte, den Umweg
über die zahllosen, größtenteils ausgestorbenen Lebensformen
gewählt haben sollte, wenn er anders gekonnt hätte. Es kann
also aus den ange führten Gründen Gott nicht als allmächtig betrachtet
werden —
Nach den bisheiigen Ausführungen ist es wohl ganz klar,
daß die ganz anthropomorphen Vorstellungen von Gottes Allgüte
und Allgerechtigkeit einer Kritik nicht standhalten. Die Menschen
haben ihm diese Eigenschaften zugeschrieben. Sie haben das
aber vergessen und tun so, als ob die Allgüte und Allgerechtigkeit
Gottes unumstößliche Wahrheit wäre, mit der wir uns abfinden
müßten. Sie unterdrücken deshalb die Stimme der Vernunft in
sich und beschwichtigen alle Kritik an den Ungerechtigkeiten und
Grausamkeiten vergangener und gegenwärtiger Zeiten mit der
Ausrede, Gottes Wege sind nicht unsere Wege und seine Gedanken
sind nicht unsere Gedänken. Der Sinn seines Handelns ginge
über unseren Verstand hinaus. Und doch hat dieser selbe Verstand
zuerst aus einer Projektion menschlicher ethischer Gefühle
auf das höchste Wesen seine Allgüte und Allgerechtigkeit behauptet
.
Nichts in der Weltgeschichte spricht dafür, daß ein gütiger
und gerechter Geist die Geschicke lenkt.2) Die Natur ist mitleidlos
und ungerecht, wenn wir sie vom subjektiven Standpunkt
irgend eines Individuums betrachten. Objektiv ist es aber richtiger
zu sagen: Die Natur ist weder gut noch schlecht, weder gerecht
noch ungerecht, und das Gleiche muß von Gott, als einem
ihrer Teile [?] gelten. Damit muß auch ein persönliches Verhältnis
2) Unterzeichneter selbst hat in einer (1876 bei Konrad Wittwer
in Stuttgart erschienenen) philosophischen Abhandlung: „Versuch
einer monistischen Begründung der Sittlichkeitsidee % die ihm 1877
einen Gotteslästerungsprozeß eintrug, wo er jedoch freigesprochen
wurde, ausgehend von all dem entsetzlichen Elend in Menschen-
und Tierwelt [man denke nur an die Vivisektion und den jetzt
tobenden Weltkrieg] seinen schweren ethischen Bedenken gegen
die Annahme eines allwissenden und allmächtigen Gottes, der alles
hätte anders machen können und in jedem einzelnen Fall durch
sein Eingreifen, bezw. durch einen bloßen Willensakt solche Greuel
verhindern könnte, dahin drastischen Ausdruck gegeben, daß er ein so
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