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306 Psychische Studien. XLII. Jahrgang. 7. Heft. (Juli 1915.)
der Menschen zu Gott, wie etwa der lieben Kinder zu ihrem
lieben Vater, und jede Betätigung der Frömmigkeit ihren Sinn
verlieren.
Wir können nach dem Dargelegten von Gottes Eigenschaften
nicht mehr sagen, als daß sein Wissen weit über alles Menschliche
hinausgeht und darum wohl auch sein Vermögen, im Rahmen der
anorganischen und psychischen Naturgesetze zu wirken. Allmächtig
aber ist er nicht und für die von ihm behauptete All-
Gerechtigkeit und Allgüte mangelt es an jedem bindenden Beweise.
Glaubt man aber die Existenz eines Gottes zur Erklärung der
Weissagungen annehmen zu müssen, so wird man sein Einwirken
auf irdisches Geschehen nicht darin erschöpft sehen wollen, daß
er gelegentlich den Geistern Verstorbener oder Lebenden Einblick
in die von ihm selbst vorausgesehene Zukunft gibt. Er könnte,
ähnlich so, wie der bewußte Wille die Wahlhandlungen des Menschen
lenkt, die Gebiete im Lebensablauf der Organismen beeinflussen
, die psychischer Einwirkung ^ugängig sind. Er brauchte,
gesetzt den Fall, das Leben wäre ewig in der Welt, nicht Schöpfer
des Lebens zu sein; könnte aber aus den einfachsten belebten
Zellen, wie sie aus dem Weltall auf die Erde gelangen konnten,
die mannigfachen Tier- und Pflanzenformen mit ihren höchst
gedachtes Wesen nach den Begriffen menschlicher Gerechtigkeit
als ein moralisches Ungeheuer bezeichnete, das nach dem
bekannten Ausspruch eines Kommunarden vom Jahr 1871 guillotiniert
zu werden verdienen würde. Allem die Theologen bezeichnen
eben die Itatsehlüsse Gottes, die ihm unter Umständen eine Beschränkung
der menschlichen Selbstbestimmung verbieten, als un-
erforacblich, und auch der unbefangene Freidenker muß zugeben,
daß es niedriger stehenden Wesen unmöglich ist, die Gedanken
oder die Pläne höherer Geister, bezw. eines allerhöchsten Geistes
zu verstehen. Das kam Unterzeichnetem zu klarem Bewußtsein
durch einen Vorgang in einer Menagerie, dem er vor Jahren zu-
iällig beiwohnte. Eine Löwin hatte Junge geworfen, die der
Wärter in der ebenso vernünftigen, als wohlwollenden Absicht, ^ie
vor dem in einer Ecke liegenden männlichen Löwen zu schützen,
schleunigst aus dem Käfig bringen wollte, was ihm beinahe das
Leben gekostet hätte, denn die Mutter meinte natürlich, er wolle
ihre Kinder rauben und hätte ihn beinahe zerfleischt, wenn sie
nicht noch rechtzeitig weggetrieben worden wäre. Hätte dieses
Tier klar bewußt denken können, so wäre ihm der Mensch, dessen
gute und richtige Absicht sie mit ihrem inferioren Intellekt nicht
erfassen konnte, wohl gleichfalls als .ein moralisches Ungeheuererschienen
. So reicht der endliche Verstand des Menschen offenbar
nicht hin, um die Pläne einer göttlichen Weltordnung zu verstehen
. Erst das Fortleben in einer höheren, mehr geistigen Welt
bringt vielleicht Aufklärung und ein richtiges Verständnis, wenn
man sich durch eigene Geistesarbeit dazu fähig gemacht hat. Daß
aber andererseits die antüropomorphen Gottesvor.^tellungen der
Volksreligionen philosophisch nicht haltbar sind, ist für jeden klar
Denkenden ebenso einleuchtend. Maier,
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