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Hänig: Jolanda im Gespräch über Religionspsyehologie 847
Theologe : Das hängt doch wohl von manchem ab:
von der Länge, von der Form, von dem Inhalte.
0. : Dieser Meinung bin ich auch, aber die Hauptsache liegt
doch wo anders. Sie liegt doch wohl darin, ob wir das, was jene
Schriftsteller erzählen, selbst erleben und nachfühlen können.
T h. : Das ist ja doch der Zweck jedes wahren Kunstwerkes
, ob es nun der Literatur oder einer anderen Gattung angehört
.
0. : Ist nicht auch in der heutigen Religionswissenschaft
viel von diesem Erleben die Rede?
T h. : Man stellt es heute wieder sehr in den Vordergrund,
weil man wieder mehr als je die Rechte des Individuums in der
Religion betont, das eben der Religion nicht anders als durch Erleben
innewerden kann.
0. : Und daran hat man sehr recht getan. Aber wie sollen
wir jenes Erleben weh! auffassen? Denn wir sind heutzutage gewöhnt
, nicht bei Begriffen stehen zu bleiben, sondern jeder Sache
möglichst auf den Grund zu gehen. -
T h. : Es gibt eben Dinge, denen man nicht bis auf den
Grund gehen kann, undjdazu gehört eben auch das religiöse
Erleben. Es ist etwas so Feines, daß man ihm nicht mit menschlichen
Erklärungen und Instrumenten beikommen kann.
O. : Es entzieht sich allerdings meistens der Beobachtung,
wie das leicht verständlich ist. Aber wir müssen doch wenigstens
den Versuch machen, etwas in diese Geheimnisse einzudringen. —
T h. : Ich verspreche mir wenig Erfolg davon. —
O. : Wenn wir nicht selbst dazu imstande sind, können wir
ja wenigstens einmal sehen, wie andere über diese Dinge gedacht
haben. —
T h. : Wer sollte da z. B. in Betracht kommen?
O. : Ich wollte auf das zurückkommen, von dem wir ausgegangen
sind: könnten wir nicht einmal bei Goethe anfragen,
was er in dieser Hinsicht gedacht har? Denn sein Urteil wäre
doch wert in erster Linie erwogen zu werden. —
T h. : Du meinst wohl die Bekenntnisse einer schönen Seele
im Wilhelm Meister, die nach den Briefen des Fräuleins von
Klettenberg gearbeitet sind? Aber Goethe schildert ja hier eben
nur den Vorgang, ohne darüber selbst ein Urteil abzugeben. —
0. : Er scheint also beinahe Deiner Meinung gewesen zu
sein, wenn Du behauptest, daß man diese Vorgänge nur schildern,
nicht erklären könne. Aber vielleicht gibt er uns doch eine Antwort
. Wie schildert er nämlich jenen Vorgang?
Th. : Den Wortlaut wüßte ich allerdings nicht genau anzugeben
, —
O. : Ich auch nicht, aber wir könnten uns ja das Ganze aus
dem Gedächtnis ungefähr wieder herstellen. — Das Fräulein von
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