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348 Psychische Studien. XLII. Jahrgang. 8. Heft. (August 1915.)
Kattenberg erzählt, wie sie lange Jahre hindurch den Verkehr
mit ihrem Heiland sucht, wie sie darüber auf alle irdischen Freuden
verzichtet und schließlich in einer besonderen Stunde eines
solchen Erlebnisses teilhaftig wird. Ein Zug bringt, so wird dieses
ungefähr geschildert, ihre Seele in diesem Augenblick nach dem
Kreuze hin, an dem Jesus einst erblaßte, und sie vergleicht ihn
mit demjenigen, wodurch unsere Seele zu einem abwesenden
Freunde geführt wird. So nahte ihre Seele dem Menschgewordenen
und am Kreuze Gestorbenen, und in diesem Augenblick
glaubt sie innegeworden zu sein, was Glaube ist. „Das ist Glaube,
sagte ich*', so heißt es wohl bei Goethe, „und sprang wie halb erschreckt
in die Höhe. Ich suchte nun meiner Empfindung, meines
Anschauens gewiß zu werden, und in kurzem war ich überzeugt,
daß mein Geist eine Fähigkeit, sich aufzuschwingen erhalten habe,
die ihm ganz neu war. Ich konnte diese Empfindungen ganz
deutlich von aller Phantasie unterscheiden, sie waren ganz ohne
Phantasie, ohne Bild, und gaben doch eben die Gewißheit eines
Gegenstandes, auf den sie sich bezogen, als die Einbildungskraft,
indem sie uns die Züge eines abwesenden Geliebten vormalt." So
ungefähr lautet doch der Text?
T h. : Ich glaube auch, wenn ich mich recht daran erinnere.
O. : Was ist also hiernach das Erleben?
T h. : Es ist ein Zustand des Gemütes, wodurch ein Zunahen
der Seele zu dem Erlöser herbeigeführt wird, wie sich der
Dichter an dieser Stelle ausdrückt. —
O. : Das wird doch zunächst nur bildlich gemeint sein,
wenn auch vielleicht die Schreiberin dieser Bekenntnisse eine
andere Meinung darüber gehabt hat. Was ist also dann das Erleben
, in unserer Sprache ausgedrückt?
T h. : Wie sollte man das anders ausdrücken, als es schon
Goethe getan hat?
0. : Aber Goethe redet ja wohl eben hier nur in der
Sprache jener Pietistin und würde sich sonst doch wohl etwas
anders ausgedrückt haben. — Erleben im religiösen Sinne ist
hiernach jedenfalls ein Zustand des Gemüts, in welchem ich eine
Frage, also in unserem Falle die nach dem Erlösungstode Jesu,
nur bejahen kann, d. h. negativ ausgedrückt: das Gefühl würde
in diesem Augenblick gegen mich sein, wenn ich jene Frage im
ablehnenden Sinne beantworten würde. So hat doch wohl Goethe
jenes Erlebnis des Fräuleins von Klettenberg aufgefaßt, als er den
Bericht davon in seinen Bildungsroman einfügte?
T h. : Allerdings scheint das so. —
0. : Er scheint aber doch recht wenig davon gehalten zu
haben, denn wir wissen nicht, daß er deswegen ein gläubiger
Christ geworden wäre. —
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