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Kaindl: Geisteswissenschaft und moderne Kultur.
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Geisteswissenschaft und moderne Kultur.
Von Alois Kaindl (Linz a. D.).
Ursprünglich hatte ich die Absicht das lolgende Referat der
Linzer „Tagespost" (vom 18. Mai 1915) über einen von Dr, R.
Steiner hier gehaltenen Vortrag den „Psychischen Studien**
wortlos einzusenden; die darin vertretene Ansicht über unser
Geistesleben und unsere Kultur, sowie das unklare Verhältnis der
Geisteswissenschaft zu jenen, besonders aber die eigentümlichen
Unterscheidungen in unserer modernen Kultur bestimmten mich
jedoch, auf dieses Thema näher einzugehen. — Das betreffende
Referat lautet:
„(Vortrag in der Anthroposophischen Gesellschaft.) Übel
Einladung der hiesigen Anthroposophischen Gesellschaft hielt gestern
Herr Dr. Rudolf Steiner aus Berlin, einer der bekanntesten Vertreter
dieser Geistesrichtung, im Blauen Saale des Kaufmännischen
Vereinshauses einen Vortrag über „Die übersinnliche Erkenntnis
und ihre stärkende Seelenkraft in unserer schicksaltragenden
Zeit**. Der Vortragende entwickelte in zweistündiger fließender
Rede seine Ansichten über die Art, wie der Mensch sich am besten
gegen die seelischen Insulte der gegenwärtigen Zeit wappnet, und
fand beifällige Zustimmung seines Auditoriums. Der Vortrag
war von ungefähr 50 Personen besucht. Über Wunsch der Veranstalter
sehen wir von einer Kritik der „übersinnlichen Erkenntnisse
** Dr. Steiners ab. — Von anderer Seite wird uns
hierüber geschrieben: Der Vortrag Dr. R. Steiners, welcher
gestern abends im Kaufmännischen Vereinshause über das vielversprechende
Thema ..Die übersinnliche Erkenntnis und ihre
stärkende Seelenkraft in unserer schicksaltragenden Zeit*' gehalten
wurde, zerfiel seinem Inhalt nach in zwei Teile, zwischen
denen nur wenig Zusammenhang bestand. Der erste war eine
skizzenhafte Darstellung einer neuen Wissenschaft, die sich ebenso
hochtrabend wie unklar „Geisteswissenschaft** nennt. Sie ist,
kurz gesagt, die Selbstbeobachtung und Selbstvertiefung der
menschlichen Seele. Durch Meditation oder Konzentration wird
die Seele in die Lage versetzt, sich vom Körper völlig loszulösen.
Er fällt sozusagen von ihr ab, sie wird frei. Dadurch bemächtigt
sich ihrer ein Gefühl großer Vereinsamung und darauf tiefer
Furcht. Aber durch sie hindurchdringend erwirbt sie die Erkenntnis
, daß sie selbst und der ganze Mensch etwas „vom Weltall
Gewolltes** sei und darin liegt nun wieder das Beruhigende in
diesem Seelenzustande. Eine genauere Beurteilung oder gar
Kritik dieser Geisteswissenschaft ist auf Grund des Vortrages
leider nicht möglich. Er bewegte sich nämlich so sehr in der
völlig abgebrauchten und verwaschenen Phraseologie von „Seele
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