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Kaindl: Geisteswissenschaft und moderne Kultur. 359
Während dieser weiß, daß das übersinnliche Bewußtsein nur auf
Kosten des sinnlichen entfaltet werden kann, behauptet St., daß,
weil er selbst mit unerbittlich logischem Denken nur die Wahrheit
suchte, sich seine höhere Wahrnehmungsfähigkeit so ausbildete
, daß sie als jenes nicht nur in alten, sondern auch in den
modernen Zeiten bekannte Hellsehen aultrat, dessen Keim in allen
Menschen enthalten ist. ')
Wieso kommt es, so muß man sich fragen, daß Wahrheitssucher
, welche gleich ihm den Weg streng logischen Denkens betraten
und verfolgten, nie zu gleichem Resultate gelangten: daß
ein Kant, ein David Strauß usw. dadurch nicht ebenfalls die Gabe
der übersinnlichen Wahrnehmung erwarb? Die Produkte der
Geisleswissenschaft sollen sich nach St. von den Offenbarungen
Somnambuler dadurch vorteilhaft unterscheiden, daß sie nicht
wie diese eine Abgerissenheit und chaotische Verwirrung zeigen,
sondern sich durch dieselbe strenge, regel- und gesetzmäßige Anordnung
auszeichnen wie die Philosophie.
Bei St. soll ein Zusammenwirken des Denkens und des übersinnlichen
Schauens stattfinden und zwar in der Weise, daß
während des letzteren der Faden streng logischen Denkens nie
reißt, welcher Umstand das Kriterio.n bildet zwischen Mystik und
der Geisleswissenschaft. Diese Behauptung St.'s steht in direktem
Widerspruch mit allen bekannten Tatsachen des Somnambulismus,
welche uns belehren, daß Reflexion und übersinnliche Wahrnehmung
sich gegenseitig ausschließen. — Gewagt erscheint auch
mit Rücksicht auf die Erfahrungstatsachen des Somnambulismus
seine Behauptung, daß die Seele sich durch Konzentration und
Meditation in eine Lage versetze, sich vom Körper völlig loszulösen
, er sozusagen von ihr abfalle und, sie freigebe. Nach den
übereinstimmenden Aussagen Somnambuler ist eine solche Befreiung
der Psyche nur im Tode möglich.
Daß die wohlgemeinte Absicht St.'s mißlang, seine Geistes-
Wissenschaft als Balsam für die Wunden unserer Zeit zu verwerten
, darf um so weniger wundernehmen, als ja auch keine
Philosophie oder Religion unser Gemüt darüber zu beruhigen,
noch uns mit der tief beschämenden Tatsache auszusöhnen vermag
, daß, wie Prof. V. Knauer2) sagt, die Menschheit, welche
Kriege lührt und die Todesstrafe sanktioniert, trotz aller Tiraden
von Fortschritt und Bildung noch nicht einmal die erste und
unterste Stufe der menschenwürdigen Kultur betieten habe.
1) 8. Eugene Levy, „K. Steiners Weltanschauung und ihre
Gegner* Berlin, Verlag Siegfried Cronbaeh.
-) „Die Hauptprobleme der Philosophie14 (Vorlesungen während
des Wintersemesters) von Vincenz Knauer, Verlag Wilhelm Brau-
müller, Wien u. Leipzig 1892.
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