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Ka:ndl: Geisteswissenschaft und moderne Knltnr. 361
Und Teurung anlangt, könnt Ihr so gut
Dem Himmelszelt mit Euren Knütteln dröhn,
Als daß Ihr auf den römischen Staat sie schwingt —
Die jetzige Hungersnot stammt von den Göttern
Und nicht vom Adel. Mit gebeugten Knien
Und nicht mit Fäusten müßt Ihr sie bekämpfen."
Erster Bürger: „Für uns sorgen? Nun das muß ich sagen! —
Sie haben noch nie für uns gesorgt; ließen uns verhungern,
während ihre Kornhäuser von Getreide strotzten; machten Gesetze
gegen den Wucher, um den Wucherern unter die Arme zu greifen;
wiedei rufen täglich eine heilsame Verordnung wider die Reichen
und e-sinnen täglich schärfere Satzungen, um die Armen zu
fesseln und einzuschnüren. Wenn der Krieg uns nicht auffrießt,
so werden sic's tun; darin besteht ihre ganze Liebe zu uns."
Menenius: »Entweder müßt Ihr selbst als ungemein
Böswillig Euch bekennen, oder Euch
Als töricht schelten lassen." —
Das Wesen der griechischen und römischen Kultur des Altertums
unterscheidet sich aber noch auf das Vorteilhafteste von
dem der unsern, denn das Menschheitsgewissen war damals noch
nicht durch die Lehren einer sozialökonomischen Afterwissenschaft
in dem Grade zerstört, daß man Habsucht und Geldgier
nicht als verwerfliches Laster gebrandmarkt hätte, anstatt sie, wie
unsere Zeit, als die höchsten Tugenden zu preisen.
Trotzdem das Unheil, das der Menschheit damals aus diesem
verabscheuungswerten Laster erwuchs, nicht halb so groß war wie
heute, sah sich ihr Genius doch bewogen, seine warnende Stimme
dagegen zu erheben:
„Nimmer ist ein solches Unheil wie das Geld
Der Welt erwachsen. Städte kehrt's verwüstend um
Und treibt die Menschen flüchtig fort von Haus und Herd;
Betörend überreckt Geld der Edlen Sinn,
Daß sie zu schmachvoll bösem Handeln sich versteh'n;
Zu jeder Arglist leitet Geld die Menschen an
Und weiht sie ein in jedes gottvergess'ne Tun."
(Sophokles.)
Alles wohl erwogen, wird man St. keineswegs beipflichten
können, daß der gegenwärtige europäische Krieg idealer Güter
wegen geführt wird. Es ist kein Ringen zwischen einer Kultur, die
auf einer idealistisch-geistigen Weltanschauung basiert, und einer
solchen, die sich auf eine materialistische gründet, sondern ein
Ringen um Macht, Einfluß und Besitz. Auf die materialistische
Weltanschauung aber gründet sich die ganze europäische Kultur.
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