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362 Psychische Studien. XLII. Jahrgang. 8. Heft. (August 1915.)
Den inneren Zusammenhang von Kultur und Weltanschauung
hat du P r e 1 richtig erkannt. „Die Geschichte", sagt
er, „ist Phänomenologie des Geistes, d. h. die Geschichte besteht
in materialisierten Ideen, und jede Kulturform ist nur der äußere
Ausdruck für zur Herrschaft gelangte Vorstellungen, als innerlich
treibenden Kräften. Eine Kultur zeigt immer nur Lichtseiten soweit
richtige Ideen zur Herrschaft gelangt sind, dagegen alle
Schattenseiten auf irrtümlichen, unwahren Voi Stellungen beruhen.
Soll eine Gesellschaft gebessert werden, so müssen die herrschenden
Vorstellungen, nach denen sie lebt, berichtigt werden. Eine
der wichtigsten Ideen und eine von denen, die den größten Einfluß
auf die Kultur ausübten, ist die über die Philosophie der Geschichte
selbst, d. i. jene Vorstellung, die wir über die Bedeutung
des menschlichen Daseins gewonnen haben. Eine falsche Vorstellung
vom Zweck unseres Daseins muß auch einen falschen Gebrauch
unseres Daseins nach sich ziehen.*' —
.,Was die materialistische Weltanschauung anbetrifft", sagt
du Prel weiter, „*o hat sie nie dauernd Wurzel zu fassen vermocht
, denn jedesmal, wenn sie zur allgemein herrschenden Ansicht
zu werden begann, machte sich immer auch das Gesetz
geltend, daß die herrschenden Ideen die Kulturform bestimmen,
und so sieht sich eine materialistische Gesellschaft immei vor die
Alterrative gestellt, entweder an ihren materialistischen Ideen zu
gründe zu gehen, oder ihre Weltanschauung gründlich umzuge-
stalten, um eine andere Kulturform zu gewinnen. Es bedarf
keiner näheren Ausführung, daß auch unsere Gesellschaft vor
einem solchen Wendepunkt steht. Es ist bereits eingetroffen, was
Schopenhauer prophezeit hat, daß der Materialismus uns zum
Bestialismus führen wird".4) — Obschon es leicht einzusehen ist,
daß eine Gesellschaft, die den Eigennutz zu ihrem moralischen
Grundprinzip erwählt, durch einen kontinuierlich wachsenden
Widerstreit der Individualinteressen immer mehr in innere Wirrnis
und Zerfahrenheit, und die Staaten, die sie bildet, gegenseitig in
Konflikt geraten müssen, verfiel, wie uns die Geschichte belehrt,
die Menschheit immer wieder in denselben Fehler, weil sie die
Welt, anstatt als ein organisches Gebilde, als ein Konglomerat von
Einzelwesen betrachtete, das, soweit es den Menschen betrifft,
sich durch äußeren Druck nach Belieben zu Staatengebilden
formen läßt5)
(Schluß folgt)
4) „Die Philosophie der Geschichte" (Maximilian ITarden, „Die
Zukunft«, Nr. 8, II. Jahrg., Berlin den 24. Novbr. 1894.)
r>) P.S. Unlängst fand ich den Schriften des allbekannten
steirischen Dichters Peter Bosegger folgende, mit meiner
Ansicht über Moral auffallend übereinstimmende Stelle: „Ich
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