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G. Z.: Eine Vision.
863
III. Abteilung.
Tagesneuigkeiten, Notizen u. dergl.
Eine Vision.
Von Dr. G. Z., Hamburg.
Jetzt mögen es etwa zwei Jahre her sein, daß ich eines
Nachmittags im Spiegel plötzlich mich selbst als ganz alten Mann
mit schneeweißen Haaren, das Gesicht voller Runzeln erblickte.
Ich hatte einen furchtbar vergrämten Gesichtsausdruck, wie ich
mich nicht erinnern kann, ihn je bei einem anderen Menschen gesehen
zu haben. Ich wußte genau, das ich dies selbst war und
niemand anders, so verschieden mein Äußeres (ich war 36 Jahre)
von dem gesehenen Greisenbild war. Ich war, während ich das
Bild erblickte, nicht im geringsten erstaunt. Es war mir, als sähe
ich mein gegenwärtiges Spiegelbild. Als die Vision verschwunden
war, hatte ich die bestimmte Empfindung, mit einem anderen
Auge als dem körperlichen gesehen zu haben. Ich fragte mich
sofort: habe ich dies Greisenbild wirklich gesehen oder war es
nur Traum, nur Einbildung? Ein Traum kann es unmöglich gewesen
sein. Es war nachmittags etwa 5 Uhr, in der Küche meiner
damaligen Wohnung, wo sich über dem Hahn der Wasserleitung
ein kleiner Spiegel, den ich jetzt noch besitze, befand. Einbildung
kann es auch nicht gewesen sein. Es hat mich selten etwas so erschüttert
wie dies merkwürdige Bild. Jede Einzelheit steht mir
noch völlig deutlich vor Augen. Sollte ich durch bloße Einbildung
zu einer so wunderbar lebendigen, mir selbst völlig unerwarteten
bildmäßigen Vorstellung gekommen sein?
Noch heute begleitet mich die Erinnerung an das damals Ge-
schaute fortgesetzt. In einer besonders schweren Zeit, in seelischen
Leiden, die ich manchmal nicht mehr überstehen zu können
glaubte, hat mich diese Vision trotz ihres ernsten Inhalts aufs
tielste beruhigt und getröstet. Seitdem habe ich den festen
Glauben, alles Schwere überwinden zu können, mag es auch nicht
spurlos an mir vorübergehen.
Mein Erlebnis hat vielleicht einige Ähnlichkeit mit dem, was
Goethe über seinen Abschied von Friederike Brion in „Dichtung
meine, Unrecht tun ist Sünde, aber Unrecht leiden ist es auch.
Denn durch das letztere begünstigt man das Unrecht und bestärkt
es, und im Laufe der Zeit würden alle Nachgebenden ausgetilgt
sein, die Gewalttätigen blieben bestehen und käme schließlich genau
das heraus, was Nietzsche gepredigt, nämlich, daß nur der
Starke und Kücksichtslose das Eecht habe, Herr der Welt zu sein."
— (Heimgarten.) A. K.
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