http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1915/0409
Hänig: Jolanda. Ein Gespräch über ßeligionspsychologie 401
stellen, sondern nur etwas, was später zu diesen Gefühlen hinzukommt
. Und vielleicht ist es auch bei manchen ganz zu entbehren
. Aber es gibt doch noch eine ganze Anzahl von niederen
religiösen Phänomenen, die wir bisher außer Acht gelassen haben.
Wir wollen doch einmal unseren Physiologen zu Worte kommen
lassen!
P h. : In dem Falle, den Ihr eben besprochen habt, liegt
doch nichts weiter als eine einfache Suggestion zugrunde. Das
Ganze ist kurz gesagt, ein Lustgefühl, verbunden mit einem
Lösungsgefühle, indem jene Leute durch die Vorstellung, daß
dieser Tod wohlgetan sei, allmählich einen solchen Druck auf ihr
Gefühlleben ausüben, daß bald wieder das Lustgefühl, das auf
ihre Tätigkeit fördernd einwirkt, entsteht, indem sie diesem Satze
zustimmen.
O. : Diese Erklärung ist ja nicht wesentlich von der unsrigen
verschieden, nur daß Suggestion eher bei Massenerscheinungen,
als bei dem Einzelnen eine Rolle spielen. Die Bekehrungen wirst
Du natürlich alle auf pathologische Vorgänge zurückführen. —
P h. : Warum sollte man sie denn anders erklären ?
0. : Weil es eben darunter Fälle gibt, bei denen von pathologischen
Zuständen keine Rede sein kann. Bei manchen mag
allerdings diese Erklärung völlig zureichen, und es mögen Zustände
von nervöser Überreizung, verbunden mit Halluzinationen,
hinzukommen. Aber das ist ja alles so bekannt, daß wir darüber
nicht viele Worte zu verlieren brauchen. Wir wollen uns doch
lieber nach den anderen Phänomenen des religiösen Seelenlebens
umsehen.
T h.: Welche sollen hierbei noch in Betracht kommen ?
0. : Betrachten wir doch einmal das Buch, das immer im
Mittelpunkte des christlichen Glaubens gestanden hat: die Bibel.
Weshalb mag gerade die Bibel die Menschen, soweit sie wenigstens
dem Christentum angehörten, so angezogen haben?
T h. : Offenbar doch wegen ihres Inhaltes! Wenn die Botschaft
, die Jesus Christus in die Welt gebracht hat, richtig ist,
d. h. wenn wir dann, wenn wir nach jenen Forderungen handeln,
in Gemeinschaft mit dem Ewigen treten, so ist doch jene Anziehungskraft
ganz verständlich.
0. : Wurden aber diese Forderungen, besonders die der
Nächstenliebe, nicht schon lange vor Jesus in der antiken Welt
aufgestellt?
T h. : Ich glaube wohl, aber nur von einzelnen erleuchteten
Geistern. —
0. : Es kann sich also hierbei doch nur um eine Forderung
handeln, die allen Menschen gemeinsam eingeschrieben ist, gleich
einem ungeschriebenen Gesetze, wie sich die Alten manchmal ausdrücken
.
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