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404 Psychische Studien. XLII. Jahrg. 9. Heft. (September 1915.)
Kulturform ein innerer Zusammenhang besteht, worüber man sich
aus der Geschichte, die ihrem eigentlichen Wesen nach als Kulturgeschichte
aufzufassen ist, belehren kann, so erscheint es mir im
Hinblick auf unsere Zeit, die man, weil eine ereignisreiche, folgenschwere
, eine historische, eine große Zeit genannt hat, angebracht
, noch einige der hierauf bezüglichen vortrefflichen Ideen
hier anzuführen, die du P r e 1 in dem bereits erwähnten Artikel
„Die Philosophie der Geschichte'* entwickelt hat. „Die Geschichte
", sagt er darin, „ist Phänomenologie des Geistes. Darum
ist sie erst verstanden worden, als man einzusehen begann, daß
sie wesentlich Kulturgeschichte ist. Das ist so lange nicht her.
Voltaire, als er 1763 an seinen Freund d'Argental schrieb:
J'ecris Thistöire de Tesprit humain, et non une gazette\ war einer
der Ersten, der diese Einsicht anbahnte. In seinem ,Essai sur les
moeurs' hat er den Zusammenhang zwischen den jeweiligen
Kulturformen und den herrschenden Ideen als deren Grundursache
angeführt. Dieser Zusammenhang ist ein notwendiger in der
Weise, daß bestimmte Ideen bestimmten Kulturformen entsprechen
, daß ferner nicht bloß für die Lichtseiten einer Kultur,
sondern auch für ihre Schattenseiten bestimmte Ideen verantwortlich
sind. Wer nur die Regententafeln und die Jahreszahlen
von Schlachten kennt, ist noch kein Historiker; nur der Kulturhistoriker
treibt die Geschichte wissenschaftlich. Nur so verstanden
, ist die Geschichte auch eine Lehrmeisterin, und sie
könnte für die Menschheit Dasselbe ieisten, was Bewußtsein und
Erinnerung für den einzelnen. Menschen leisten. In der Tat freilich
sind wir schlechte Schüler. Der Verlauf der Gegenwart beweist
meistens nur, daß die Menschheit aus ihrer Vergangenheit
nichts gelernt hat. Eingebildet auf die Vorzüge ihrer Zeit, sind
die Menschen oft blind für deren Fehler, und weil der erste
Schritt zur Besserung immer die Erkenntnis ist, daß man der
Besserung bedürftig sei, wachsen beim Mangel dieser Selbsterkenntnis
unsere geschichtlichen Fehler oft ins Extrem an, bevor
sie als übel erkannt und bekämpft werden — zu spät oft, um
die Kulturform zu retten. —
Eine der wichtigsten Ideen und eine von denen, die den
größten Einfluß auf die Kultur ausüben, ist jedenfalls die über
die Philosophie der Geschichte selbst. Man kann es ganz allgemein
, sagen, daß eine Kultur zur Blüte gelangt, wenn die
Menschen eine richtige Auffassung der Philosophie der Geschichte
besitzen, und daß der Auflösungsprozeß beginnt, wenn sie aufhören
, sich als Glieder des Ganzen zu fühlen, und das Bewußtsein
verlieren, daß ihnen eine Aufgabe gestellt ist, — d. h. also,
wenn sie über die Philosophie der Geschichte falsch denken.
Gesellschaftliche Zustände müssen höchst verschieden ausfallen,
je nachdem in den Menschen die Besonnenheit besteht oder nicht,
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