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406 Psychische Studien. XL1I Jahrg. 9. Heft. (September 191*.)
Zug wahrnehmen. So lange, wie wir zu sagen pflegen, den Gesetzen
gehorcht wird, geht alles gut. Aber zerbrecht ein einziges
Glied und die Erschütterung wird, mit der Schnelligkeit des Gedankens
, bis zur entferntesten Verzweigung mitgeteilt. Und der
Zug springt jetzt in den gähnenden Abgrund oder überstürzt sich
und zerschellt in gestaltlose Trümmer. Vor einigen Augenblicken
noch war alles Harmonie und Freude; und nun ist alles Zwietracht
und Bestürzung; das Glück ist ausgetauscht für Elend." —
In diesem Falle ist die Zertrümmerung des Zuges ebenso auf
eine, von uns als Gesetzmäßigkeit bezeichnete, unveränderliche
Wirkungsweise aller Kräfte und Substanzen zurückzuführen, wie
seine zweckgemäße, normale Funktion; die ungleichen Resultate
sind nur die Folge einer unrichtigen oder richtigen Anpassung an
die ihn und seine Bewegung beherrschenden Gesetze. Um aber
das gewünschte Resultat zu erhalten, bedarf es einer Kenntnis
dieser Gesetze, sowie einer richtigen praktischen Verwertung derselben.
Der innere Sinn dieser Parabel ist offenbar der, daß, wenn
die Menschheit ihr immanentes Glücksverlangen realisieren will,
sie dies nur auf dem Wege einer richtigen Anpassung an die unabänderlichen
Gesetze der Natur erreichen kann, niemals aber
mit Außerachtlassung derselben. — Eine wahre soziale Eintracht
und Ordnung läßt sich, analog der gewünschten Normalleistung
des Zuges, nur durch ein einträchtiges Zusammenwirken der
individuellen Kräfte aller in Übereinstimmung mit jenen der Natur
erzielen. Es ist zweifellos, daß, wie die ordnungsmäßige Bewegung
des Zuges von einem richtigen Verhältnisse der Centri-
petal- und Centrifugalkraft abhängt, die natürliche Gesellschafts-
Ordnung auf einem richtigen Verhältnisse zwischen Egoismus und
Altruismus (bzw. Selbst- und Nächstenliebe) beruht. Davis
nennt das Streben nach Gleichgewicht zwischen, zu bestimmten
Zwecken, einanderentgegenwirkenden Kräften ausgleichende Gerechtigkeit
und das Endresultat ihres Zusammenwirkens Harmonie
; ihr ebenmäßiges Zusammenwirken aber harmonische Tätigkeit
, im Gegensatz 7u der, aus einem Mißverhältnisse derselben
resultierenden, disharmonischen. —
Marquis de Noailles glaubt aus dem Verlauf der
Geschichte ebenfalls auf das Vorhandensein eines, einen gerechten
Ausgleich vermittelnden Gesetzes schließen zu können. „Aus dem
Studium der Geschichte muß man**, so sagt er, „die große Wahrheit
ableiten, daß bei der Handhabung der menschlichen Dinge
die Billigkeit in sich selbst ihre Belohnung, die Unbill in sich
selbst ihre Strafe trägt, daß weder die Regierung, noch die
Nationen diesem Gesetze entgehen; daß die Staatsraison nichts
entschuldigt, daß mit einem Worte eine Politik, die sich außerhalb
der Gerechtigkeit bewegt, zum Abgrund führt, mag sie so ge-
?~hickt sein, wie sie will,*' — Auch Emerson ist dieser An-
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