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„Wovon sich eure Schulweisheit nichts träumen läßt . - .* 413
Unser Marsch war übel, das ganze Feld war durchpflügt
von Granaten, und tappend und tastend mußten wir um die
Trichter uns herumfinden. Wir erreichten auch richtig die ersten
feindlichen Stolperdrähte, die, wie wir schon wußten, ziemlich
weit vorgebaut waren, und trachteten jetzt an die Haupthindernisse
der Feinde heranzukommen. Da ein Geräusch — wie
Mauern stehen wir lautlos und horchen. Ist's eine Patrouille?
Ein Horchposten? Minuten vergehen, sie scheinen uns Stunden,
da hüpft es in unregelmäßigen Sprüngen davon: es war nur ein
Häschen. Also weiter. Schrittweise schieben wir uns vor, nein,
viel langsamer, höchstens fußweise oder nur zentimeterweise. Dabei
eine Finsternis, daß man keine Hand vor den Augen sehen
kann. Doch wiederholt stelle ich flüsternd fest, daß wir noch
alle beisammen sind. Einmal ziehe ich die Uhr mit den leuchtenden
Radiumzeigern. Es ist schon ein Uhr, wir sind schon
zwei und eine halbe Stunden unterwegs und haben noch keine
feindliche Stellung erreicht! Haben wir uns verlaufen ? Wo sind
wir denn ?
Der Boden erlaubt etwas schneller auszuschreiten, wir müssen
uns auch dranhalten, denn vor Einbruch der Morgendämmerung
müssen wir wieder zurück sein. Aber keine Möglichkeit und
keine Spur von Orientierung, kein Luftzug, kein Stern, kein
Mondstrahl: dichte, dichte Finsternis. Also weiter in beschleunigtem
Marsch. Meine Uhr zeigt halb zwei. Da plötzlich bleibe
ich mitten im Vorwärtstasten entsetzt stehen und höre, wie der
Unteroffizier, der anscheinend neben mir ist, gleichzeitig mit
keuchendem Atem Halt macht. Was ist das ? Lähmendes Grausen
und Entsetzen überfällt mich; was ich noch nie, auch bei keinem
Todessturm erlebt habe — wahrhaftig, das Haar sträubt sich mir
auf dem Kopfe; es ist mir, wie wenn ein Riese eine gewaltige
Keule über mir schwänge und im nächsten Augenblick zerschmetternd
herabsausen lassen wollte. — Das war das Ende!
Ich fühlte deutlich, ich und wir alle waren dem Tode verfallen.
Da plötzlich überkam mich eine wunderbare, ruhige Entschlossenheit
. Ich kann's wirklich nicht beschreiben. Meine Seele
ward stille: „Wenn's denn sein muß, gut, dann wollen wir hier
sterben.** Leise wandte ich mich um und sagte halblaut zu den
Kameraden: „Kniet nieder, wir wollen beten!** Ich hörte, wie
sie sich zur Erde niederließen, und dann sprach ich ihnen das
Vaterunser vor. Wie oft habe ich es gedankenlos und gleichgültig
zu Beginn Ihrer Religionsstunde gebetet! Aber jetzt gewann
jedes einzelne Wort einen tiefen Sinn, d. h. seinen tiefen
Sinn für mich ganz allein und fürs ganze Leben unvergeßlich —
welch wunderbares Gebet! Ich vernahm, wie der Unteroffizier
weinte und auch die übrigen Leute nur mühsam das Schluchzen
unterdrückten. Völlig ruhig stand ich auf, und da geschah etwas
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