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430 Psychische Studien. XLII. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1915.
tausendäugigen und der pf erdeköpf igen Kwannon zur rechten
und linken Seite. Noch wird der heilige Schimmel in seinem
Stalle verpflegt, an dessen Toreingang das berühmte buntfarbige
Schnitzwerk der drei symbolischen Affen prangt, von denen sich
der eine die Augen, der zweite die Ohren, der dritte den Mund
zuhält. Eine Mahnung, nichts Böses zu sehen, zu hören und zu
sprechen. Vor dem heirlichen Tor Yomei-mon steht eine schöne
Bronzesäule, welche mit Absicht fehlerhaft ausgeführt ist, um den
Neid der Götter nicht zu erwecken. Ich erwähne dies als
Kuriosum, ohne auf eine weitere Beschreibung der einzelneu Schönheiten
dieser unvergleichlichen Tempelbauten eingehen zu wollen.
Alle diese Tempel und Hallen sind auf einem flachen Hügel
in den Hochwald hineingebaut und von herrlichsten Bäumen
edelster Art umrauscht und überschattet. Der Anblick ist ein
einzig schöner. Eine Steinallee von Göttergestalten führt durch
den Wald zum Grabmal des Abtsjigen Daisha, einer steinernen
Stupa, welcher Form man im Gegensatz zu Indien in Japan
seltener begegnet.
Ich kann dieses Kapitel nicht schließen, ohne meinem Unwillen
über die Art der Ausbeutung der besuchenden Fremden, die
hier herrscht, Ausdruck zu geben. Trotzdem man eine nicht unbeträchtliche
Taxe für den Besuch der ganzen Anlage entrichtet hat,
wird man in jeder Halle, in jedem Korridor um weitere Zahlung
angegangen. In engen Passagen stellt sich einem ein Bonze oder
Shintopriester mit vorgehaltener Schale direkt in den Weg. Dazu
das ewige Über- und Abstreifen von Zeugschuhen mit immer
neuen Trinkgeldern. Man muß mit der Börse in der Hand vorwärts
schreiten und beständig rechts und links austeilen. Dabei
stört das Geldzählen und laute Schwatzen der müßig herumlungernden
Bonzen jede Andacht. Als ich zu einem Tempel für
diesen Tag zu spät kam, da dessen Besichtigungszeit eben ablief,
schlug die ehrwürdige Schar dieser frommen Gottesknechte
höhnisch eine laute Lache an. Ich habe aber auch weder zuvor
noch nachher je eine solche Auslese von Augurengesichtern und
Galgenphysiognomien gesehen wie hier. Man sieht, wie in einem
europäischen Kurort, so wirkt überall der allzureiche Besuch und
der mühelose Erwerb durch die Fremdenindustrie demoralisierend.
Aber nicht nur unterhaltene, auch aufgelassene Tempel gibt
es hier im Hochwald und an den Berghängen versteckt genug.
Zu ihnen führen verschwiegene Wege an rauschenden Bächen
und reizvollen Wasserfällen vorüber. Ich sah solche mii moosbedeckten
Stufen, von Kletterrosen umrankt in tiefster Waldeinsamkeit
, die das Herz mehr zur Andacht stimmten als all der
Glanz und die Pracht der kaiserlichen Tempel. Aber niemand
besucht sie, niemand kümmert sich um sie, denn dabei gibt es
nichts zu verdienen, und Geldmachen ist die Parole in Nikko. —
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