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442 Psychische Studien. XL1I. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1915.)
nicht mehr Erfahrungstatsache werden kann, diese einfach geleugnet
und dann, mit Perhorreszierung des Gesetzes von der
dualen Anordnung der Kräfte, den Egoismus zum sozialen und
moralischen Grundprinzip erhoben.
Daß der Lebenskampf sich heutzutage in einer Weise verschärft
hat, wie niemals zuvor, rührt daher, weil man ihn als
„Kampf ums Dasein** zum Natur- und Lebensgesetze stempelte.
Der Lebenskampf ist die natürliche Folge einer Prävalenz des
Egoismus, der inneren Triebkraft der Individualkation, über den
Altruismus, die innere Triebkraft der Assoziation, der natürlichen
Gesellung. Es ist klar, daß durch die Individualisationskraft
zuerst die Individuen entwickelt werden müssen, ehe sie durch die
Assoziationskraft zu einem harmonischen Ganzen verbunden werden
können; die erstere muß daher früher einsetzen als die
letztere und infolged essen in den ersten Entwicklungsstadien über
letztere prävalieren. Daß die individuellen und sozialen Übel sich
mit der Prävalenz des Egoismus über den Altruismus gradatim
vermehren und steigern, ist eine historisch nachweisbare Tatsache.
Selbstverständlich wird der Lebenskampf in demselben Verhältnisse
zunehmen, als mit der Prävalenz des Egoismus über den
Altruismus sich die Existenzbedingungen schwieriger gestalten.
Hieraus erhellt, daß der Lebenskampf keine, im Wesen der
Natur begründete, absolute Notwendigkeit ist, welche bezweckt,
das Überleben des sogenannten Geeignetsten zu sichern, sondern
eine niederen Entwicklungsstadien angemessene, aus einem Mißverhältnisse
zwischen individualisierender und assoziativer Potenz
resultierende, gesetzmäßige Erscheinung.
Wie das Geeignetste, das Starke, das Tüchtige, dessen Fortbestand
durch den „Kampf ums Dasein** bezweckt werden soll,
in der Nähe betrachtet aussieht, möge die im Folgenden geschilderte
Episode veranschaulichen.
„Panik beim Untergang des französischen
Panzerkreuzers ,Leon Gambetta*.
Wie aus den Berichten der italienischen Militär- und Marinebe-
horden, die die geretteten Personen der Bemannung des »Leon
Gambetta* einem Verhör unterzogen haben, hervorgeht, haben
sich beim Untergang des Kreuzers die wüstesten Panikszenen abgespielt
. Es war der im Wachtdienst stehenden Mannschaft tatsächlich
gelungen, vier Rettungsboote flottzumachen, doch wurden
drei davon zum Kentern gebracht, weil die mit den Wellen
Kämpfenden unter Außerachtlassung der Befehle und Ratschläge
ihrer Vorgesetzten sich in wilder Verzweiflung und Kopflosigkeit
an diese Boote anklammerten. Die Insassen des vierten Bootes
retteten sich nur dadurch, daß sie sich mit Ruder- und Axthieben
gegen ihre Kameraden, die das Boot zu erreichen oder sich daran
festzuhalten suchten, zur Wehr setzten. Hierbei brachen zwei
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