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Kaindl: Geisteswissenschaft und moderne Kultur,
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Riemen entzwei und das Boot selbst wurde an mehreren Stellen
durch fehlgegangene Axthiebe beschädigt. Im Rettungsboot wurden
zwei abgehackte Hände und mehrere Finger vorgefunden.
Bei den geborgenen Leichen fand man vielfach verstümmelte
Hände, bei vier Leichen durch Axthiebe gespaltene Schädel-
decken vor.** („Linzer Volksblatt** vom 1. Juni d. J.)
Die hier geschilderten Taten könnten ebensowohl als die
Früchte völliger Unkultur, als auch als solche hochmoderner
Geisteskultur angesehen werden, deren Moralgebote in der ihnen
von Weng (Gustav Weng, „Schopenhauer-Darwin**, Berlin,
E. Hof mann & Co., 1911) gegebenen kurzen Fassung also lauten:
„Sei der Stärkste und Du befindest Dich in Übereinstimmung mit
der Natur. Das Recht eines jeden geht so weit als seine Macht,
und Macht ist Glück. Macht ist Moral. Brauche Deine Fäuste
und genieße. Du befindest Dich in Harmonie mit der Natur.**
Da die Falschheit solcher Lehren nur zu leicht aus den üblen
Früchten, die sie gegenwärtig tragen, erkannt werden könnte,
täuscht man sich gerne darüber hinweg in eine „verheißungsvolle**
Zukunft und fabelt sogar von „kosmologischen Perspektiven**.
Niemand wird bestreiten, daß, wie Weng sich treffend ausdrückt
, der menschheitliche Fortschritt weit eher den Fieberkurven
eines Kranken, oder dem Wege eines Betrunkenen gleicht, als
einer geradeaufsteigenden Linie. — Auch hierin wird das Wirken
zweier entgegengesetzter Potenzen offenbar, deren einträchtiges
Zusammenwirken gestört ist. Wäre nämlich in der Entwicklung der
Menschheit nur eine Potenz wirksam, so könnte kein Widerstreit
stattfinden. — Widerstreit setzt eine Dualität von Kräften und ein
Mißverhältnis derselben voraus.
Anstatt, wie man getan, aus der gesetzmäßigen Wirkung
dieses Mißverhältnisses ein Moralgesetz zu konstruieren, wird man
künftig darauf Bedacht nehmen müssen, das Mißverhältnis
zwischen antisozialer — antimoralischer — und sozialer (assoziativer
) — moralischer — Potenz, zwischen Egoismus und
Altruismus, durch Stärkung der letzteren nach Möglichkeit auszugleichen
, um dadurch in ihrem Zusammenwirken die zur Erzielung
harmonischer Resultate notwendige Eintracht herzustellen. —
Wie der Zug in seiner ordnungsgemäßen Vorwärtsbewegung
dadurch eine Hemmung erfahren kann, daß auf seiner Bahn
irgendwo ein Mißverhältnis zwischen Zentripetal- und Zentrifugalkraft
eintritt, ebenso kann die Menschheit auf der Bahn ihrer
Entwicklung aufgehalten werden, wenn ein abnormes Mißverhältnis
zwischen Individual- und Assoziationskraft eintritt
Jede Monokratie des Egoismus steigert erfahrungsgemäß
individuelle und soziale Disharmonie und führt dadurch die
Menschheil immer tiefer in das Unglück hinein.
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