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Hänig: Jolanda. Ein Gespräch über Religionspsychologie. 447
0. : Und zwar mit Recht, indem bei der ästhetischen Betrachtung
der Eindruck eines Gegenstandes vielfach durch die Erinnerung
an ähnliche Vorstellungen bestimmt wird. Aber es gibt
auf diesem Gebiete auch noch andere Erinnerungen, die auf das
Gefühl des Menschen einen weit tieferen Einfluß ausüben als jene.
T h. : Wir haben ja schon früher von dem Einfühlen gesprochen
, als wir versuchten, uns das Erlebnis zu deuten, das
Goethe geschildert hat. Wir erleben z. B. im Herbste so wunderbare
Stimmungen, weil wir uns in ihn einfühlen, d. h. weil wir
durch das Vergehen in ihm an unser eigenes Schicksal erinnert
werden und daher diesen Erscheinungen Stimmungen unterlegen,
von denen sie an sich nichts wissen, durch die wir aber doch ergriffen
werden.
O. : Und wir hatten ja auch gesehen, daß sich auch das
Kind einfühlt, wenn es etwa eine biblische Geschichte hört und
in diese ein Stück seiner eigenen Erlebnisse und seiner Kinderromantik
hineinlegt, so daß wir später jene Stimmungen aufs
neue erleben, wenn wir jene alten Geschichten lesen. Und legen
wir nicht auch jetzt noch in das, was uns in der Bibel erzählt
wird, Stimmungen von uns selbst hinein, indem wir durch eben
diese Erzählungen an unser eigenes Leben erinnert werden?
P h. : Besonders deutlich ist das ja bei dem Zauber, den
der Auferstehungsglaube zu allen Zeiten auf die Menschheit ausgeübt
hat. Er erklärt sich jeben dadurch, daß wir bei diesen Berichten
an das Erwachen der Natur erinnert werden, deren
Wirkung sich wieder auf uns selbst überträgt, wodurch wir genötigt
werden, unsererseits jene Stimmungen der Freude und des
neuen Lebens in jenes Ereignis hineinzuverlegen, so daß wir dadurch
wiederum ergriffen werden.
0. : Und so mag es sich mit vielem verhalten, was darin
berichtet wird. Denn man war ja früher daran gewöhnt, eben
das A und das 0 alles Wissens und alles Lebens in der Bibel zu
sehen, so daß jener Vorgang von selbst eintreten mußte, den wir
mit religiöser Einfühlung bezeichnet haben. Aber wir sind auch
jetzt noch nicht am Ende unserer Betrachtung angekommen,
sondern wir haben noch etwas Wichtiges nachzuholen. Denn es
scheint, daß wir mit den religiösen Gefühlen selbst ein allzu
kühnes Spiel getrieben haben, ohne uns mit ihnen selbst näher
zu beschäftigen und nach ihrem Wesen zu fragen. Wie wäre es,
wenn wir uns auch einmal bei der Psychologie selbst Rat holten,
nachdem uns die Ästhetik so gute Dienste geleistet hat?
Ph. : Wir hätten dann die Grundgefühle zu suchen, denen
alle anderen verwandt sind und die die heutige Wissenschaft an
den Anfang ihrer Betrachtung gestellt hat. Nur daß man nicht
recht weiß, welchen Gefühlen man jenen Vorzug einräumen soll,
daß man alle anderen aus ihnen herleitet.
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