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Reich: Über Zufall und was dazu gehört.
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werden, was verleumdet, hintertrieben, bei der Polizei denunziert
werden könnte; im Gegenteil wird jeder ehrliche, noble, erleuchtete
Gelehrte erkennen, daß hier eine gründliche, uneigennützige Arbeit
getan wurde, bei welcher es sich darum handelt, die Wahrheit
zu ermitteln und die Ergebnisse an rechtem Orte, gleichwie in
rechter Art, anzuwenden; ja, auch anzuwenden, was bei den
Gelehrten mancher Nationen durchaus nicht beliebt ist. Bei den
Schulmeistern derselben wird nur gefordert, Theorien zu bilden,
welche um so willkommener sind, je mehr sie als Wirrsal sich
kennzeichnen und Rauflust erregen, Advokaten in Nahrung setzen.
Von allen solchen niedrigen Sachen weiß, Gott sei Dank, das
Buch von Revel nichts. Dasselbe ist nur für anständige Leute
geschrieben.
Das Werk behandelt nicht allein Zufall, sondern auch Seelenwanderung
. Von dieser letzteren höre und spreche ich sehr ungern
; ich will aber sehen, wie Revel den Gegenstand auffaßt
Man kann mit dem Studium von Dingen sich beschäftigen, die
den eigenen Überzeugungen entgegen laufen, und auch auf solche
Weise der Wahrheit dienen. Zu weit führte es, die Geschichte
des Studiums von Zufall und Seelenwanderung aufzunehmen;
denn diese macht ein Unternehmen für sich aus und führt in
andere Gegenden der Welt Weisheit. Bleibt auch die Darlegung
der Geschichte in deren ganzem Umfang ferne, so kann der Autor
doch nicht unterlassen, seine Beziehungen zu Immanuel Kant klar
zu legen; damit tut er ein Werk der Gerechtigkeit.
In der ersten Abteilung des Buches ist die Rede vom Spiel
des Zufalls. Aime Revel nennt Zufall die Reserve Gottes, tnd
P. Camille Revel stellt folgende Fragen auf: ob der Zufall sei
das Unerkennbare des Dogmatismus, die substanzielle Aktivität
von Spinoza, der schöpferische Gedanke dts Hegei'schen Idealismus
, der Wille Schopenhauers, das Unbewußte Hartmann's, oder,
in seiner Auffassung, der aktive Gott der Dinge. — Weder dies
noch das kann der Zufall sein, sondern nur eine Kollektivgröße
muß es sein, aus tausend und wieder tausend Quellen fließend
und nach tausenden von Richtungen kreuzend, und schließlich
seine unendlich vielen Normen dem besondein Falle gemäß den
Wesen aufzwingend.
Es geht hierbei in allen Stücken ganz naturgemäß zu; aber
wegen der Vielheit und scheinbaren Verwicklung der Vorgänge
umgibt man den Zufall mit dem Strahlenglanze des Magischen
und legte seine ganze Erscheinung in den Willen der Gottheit.
Dieser geheimnisvollen Macht gehört die Gesamtheit dessen an,
welches man Zufall nennt, und derselbe spielt sich ab in den Erscheinungen
der Natur und im Seelensein der Wesen.
Wären Seele und Organisation der Forscher und Denker
höchst fein und harmonisch entwickelt, könnten Zufall und manches
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