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460 Psychische Studien. XLII. Jahrg. V. Heft. (Oktober 1915.)
mal ward ich bei dem wahnsinnigen Trommelfeuer unsrer Gegner
verschüttet; einmal gruben meine Leute mich aus, die es trotz
Staub und Qualm rechtzeitig gemerkt hatten, und das zweite
Mal geschah es kaum eine Stunde danach. Wir hatten uns nach
unserem ersten Vorgehen am Rande eines Hohlwegs Löcher zum
Schutze gegen die feindliche Artillerie gegraben, aber das Streu-
Feuer, mit dem wir auch da abgesucht wurden, kam näher und
näher. Plötzlich schlug eine schwere Granate nur etwa dreiviertel
Meter hinter meinem Rücken in die Erde. Ich wußte im
ersten Augenblick gar nicht, was geschehen war; ein Mann neben
mir wurde weggeschleudert, erholte sich aber auch wieder. Ich
war vollkommen von der Erde verschüttet und arbeitete mich
selbst mühevoll heraus.
Als ich heraus war, betastete ich erst meine Knochen und
suchte dann nach meinen Sachen. Alles war weggeflogen und
zertrümmert, bis auf meinen Tornister, der von der Erde vergraben
war. Mein Gewehr war auch fortgeschleudert, und es
hatte beinahe das Genick gebrochen. Wie ich so mit heiler Haut
davongekommen bin, verstehe ich kaum: es war Gottes gnädige
Führung, ja es ist wahrhaftig ein Wunder, und jeder meiner
Leute, die es mit angesehen haben, staunt, daß es so abgegangen
ist.
Ein französisches Geschoß schlug mir, als ich gleich darauf
mit meinen Leuten vorstürmte, das Bajonett vom Gewehre ab,
ein zweites riß mir den Halskragen meines Waffenrockes auf;
hätte ich gerade gestanden, so wäre es der schönste Lungenschuß
und vielleicht mein Ende gewesen. Dann aber wurde ich richtig
angebleit mit einem Hals-Schulterschuß, der mich außerdem umwarf
, dazu noch einem schmerzenden Fleischschuß im linken
Oberschenkel. Wie sorgsam haben die rauhen Hände meiner
Wehrleute mich armen Kerl zurückgebracht zum Verbandsplatz!
Es sind Prachtkerle, alle miteinander.
Nach Aussage des Arztes habe ich ein „duseliges Glück" gehabt
, da die Kugel, ohne die Lunge zu berühren, einen Millimeter
an der Schlagader vorbeigegangen ist und das Schulterblatt glatt
durchschlagen hat. Nun liege ich seit ein paar Tagen hier im
Feldlazarett, kreuzfidel, bei vorzüglicher Pflege, reichlich versorgt
mit „besserem" Rauchwerk, und meine Leute sehen abwechselnd
nach, wie ich aufgehoben bin. Behutsam auf den
Zehen schleichend, wie junge Elefanten, kommen sie an mein
Bett, als wenn sie an die Wiege eines schlafenden Säuglings
treten müßten, und alle freuen sich, daß es mir gut geht, und daß
ich noch lebe. Allerdings hat der wuchtige Schlag der beiden
neben mir niedergehenden Granaten meine Ohren doch stark angegriffen
, was ich in dem Getöse an der Front gar nicht merkte;
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