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478 Psychische Studien. XLI1. Jahrg. 11. Heft. (November 1915.)
Biwasee fließenden Wassers ins Meer führt, ist eine entschieden
malerische. Wegen seiner zahlreichen Meereskanäle wird Osaka
mit Recht das japanische Venedig genannt.
Den bis zum äußersten getriebenen Formalismus der Japaner
lernte ich an einem andern Tage in Osaka kennen. Um die alte
Daimioburg, das auf zyklopischen Mauern ruhende, von tiefen
Wassergräben umgebene Shogunenschloß 0 Shiro — jetzt zur
Kaserne eingerichtet — zu besuchen, soll man sich auf dem
Stadthaus einen Erlaubnisschein holen. Um aber keine Zeit zu
verlieren, fuhren wir — es war eine kleine Gesellschaft — vom
Bahnhof direkt dorthin. Die Wache wollte uns nicht einlassen.
Was tun? Wir hatten weder Visitenkarten bei uns, noch konnten
wir uns mit den Soldaten verständigen. Nach einiger Zeit mimischen
Verhandeins erschien ein Unterleutnant. Dieser wechselte mit der
Wachmarinschaft einige Worte, zwei Mann führten uns mit gezogenem
Seitengewehr durch mehrere Höfe auf ein Bureau. Dort
wurden mit japanisc len Hieroglyphen Zettel geschrieben, die aber, da
unsere Namen ja nicht gegeben wurden, nichts anderes enthalten
konnten als „2 unbekannte europäische Herren und 1 Dame**.
Jedem von uns wurde ein solcher Zettel in die Hand gedrückt, wir
wurden wieder bis vor das Außentor geführt, präsentierten jetzt
die uns übergebenen Zettel und durften nun unter Begleitung der
beiden Soldaten aufs Neue eintreten und abgesehen von dem Aufstieg
auf die aussichtsreiche Plattform der Zitadelle denselben
Weg machen wie vorhin. Man sieht, der heilige Bureaukratius erfreut
sich auch bei den Japanern einer großen Beliebtheit.
Eine sehr ausge dehnte, interessante und vielbesuchte Tempelanlage
ist das Tennoji, das Hauptheiligtum von Osaka. Innerhalb
der Tempelmauern befinden sich eine ganze Anzahl von
Tempeln und Tempelchen, aber auch Erfrischungshallen mit
(warmem) Bier und Zuckerbäckereien. In letzteren kauft man
Bälle von zähem Schaumzucker, den man den Schildkröten zuwirft
, von denen ein großer Teich wimmelt. Nun ergötzen sich
die Frommen, welche den heiligen Tieren solche Opfer spenden,
daran, zu sehen, wie die Kröten den großen Bissen, den sie doch
nicht verschlingen können, hin und her stoßen, bis er endlich aufweicht
. Das Wasser dieses heiligen Teiches fließt nun durch ein
unterirdisches Rohr in eine Tempelhalle, in welcher es aus dem
Munde einer ehernen Schildkröte wieder zum Vorschein kommt
und ein in der Tiefe dieses Raumes gelegenes Becken ausfüllt*
Mit Schöpfnäpfchen an langen Stangen wird dieses heilige Wasser
hier hochgeschöpft und von manchen Frommen, namentlich
Frauen, getrunken. Andere aber werfen beschriebene Holz-
plättchen in diesen Teich und fischen sie nach kurzer Zeit mit den
Schöpfkeulen wieder heraus. Dem etwas komplizierten Beschreiben
dieser schmalen und dünnen Holztäfelchen wohnte ich
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