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484 Psychische Studien. XLII. Jahrg. 11. Heft. (November 1915)
Ein noch frappanteres Erlebnis isl mir von einem Amtskollegen
verbürgt worden. Er lebte mit seiner 28jährigen Frau in
überaus glücklicher Ehe und zwei Knaben von 3 und 5 Jahren
waren der Stolz der Eltern. Da erkrankte die junge Frau ernstlich
, ohne daß der Arzt vorerst die Art des Leidens feststellen
konnte, und starkes Fieber minderte sichtlich ihre Kräfte. Die
Fieberanfälle waren so hochgradig, daß sie weder Mann noch
Kinder kannte und nur mit Mühe vom Pflegepersonal im Bett
gehalten werden konnte. Dazwischen traten wieder lichte Momente
ein, in denen sie Speise und Trank zu sich nahm und in der liebevollsten
Weise sich mit den Knaben beschäftigte, während ihr
Mann fast vor Kummer verging, denn die Kranke schwand zusehends
dahin, ohne daß irgend welche Hilfe möglich war. Am
vierten oder fünften Nachmittag war sie wieder bei Bewußtsein,
halte ihre Kinder begrüßt, die aber dann, um der Mutter jede
Aufregung zu ersparen, vom Mädchen alsbald wieder weggebracht
wurden. Dann röteten sich als Vorboten des Fiebers plötzlich
ihre Wangen, angstvoll drückte sie die Hand ihres Mannes, aber
als sie dessen Unruhe sah, sagte sie tröstend zu ihm: „Sei still,
mein Lieber, ich sage Dir vorher, wenn ich sterben muß.** Ehe er
jedoch darauf antworten konnte, verfiel sie wieder in die entsetzliche
Raserei; und mitten darin wiederholte sie dreimal in
feierlichem Tone: „Am siebenten Tage, um die achte Stunde.**
Der Anfall ließ am Abend nach, und wunderbarerweise schien
von diesem Augenblicke an die Kraft der Krankheit gebrochen.
Die Patientin erholte sich zusehends, aß tüchtig, duldete ihre
Kinder im Krankenzimmer und konnte sogar am fünften Tage
nach diesem letzten Anfall das Bett für einige Stunden mit einem
Sessel vertauschen. Trotzdem hatte mein Freund in seiner Besorgnis
über die obigen Worte, von denen seine Frau offenbar
gar keine Ahnung mehr hatte, mit seinem Hausarzte gesprochen;
der aber lachte nur und sagte: „Ach was, das sind Fieberphantasien
; seien Sie froh, daß wir Ihre Frau über den Berg weg
haben!"* Der von meinem Freund trotzdem mit Bangen erwartete
siebente Tag war ein Sonntag und wurde gewöhnlich mit einem
gründlichen Ausschlafen begonnen. Doch war mein Freund, von
großer Unruhe getrieben, während seine Frau npch sanft schlief,
um sechs Uhr aufgestanden und versuchte im nebenanliegenden
Studierzimmer zu arbeiten. Wieder und wieder ging er an die
Tür seines Schlafzimmers, um zu lauschen, aber er hörte immer
nur die ruhigen Atemzüge der Genesenden. Als die Standuhr
seines Schreibtisches 8 Uhr geschlagen hatte, trat er klopfenden
Herzens abermals an die Tür, dann zum Bett; da lag seine Frau
und war eine Leiche. „Am siebenten Tage, um die achte
Stunde,** wie sie es vorausgesagt halte.
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