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Kaindl: Freie Gedanken eines rassischen Dogmatikers. 497
ellem Interesse ist, nicht nur, weil es gleich einem Scheinwerfer in
die Schatten unseres modernen Kulturlebens hineinleuchtet, sondern
auch weil es, indem es jeden Nationalcharakter der europäischen
Kulturvölker einzeln fixiert und mit unheimlicher Schärfe
beleuchtet, geeignet wäre, etwas zu einer richtigen Selbsterkenntnis
beizutragen.
Pobedonoszew läßt sich von den Errungenschaften des
modernen Geistes nicht verblenden, sondern er erkennt in seinem
Licht, dem Intellekt, den Irrwisch, der auf Abwege führt, welche
in Sümpfen und Morästen enden. Über die einseitige Verstandes-
kullur unserer Zeit und deren schädlichen Einfluß auf das Leben
entwickelt er in obgenanntem Werke unter anderen folgende klare
und, wie mich däucht, höchst beherzigenswerte Ideen:
„Im wirklichen Leben sehen wir, daß in den meisten Fällen
es unmöglich ist, allein der Wirkung, der Fähigkeit des logischen
Denkens im Menschen zu vertrauen; daß wir in jeder Angelegenheit
des wirklichen Lebens uns mehr auf einen Menschen verlassen
, der hartnäckig und ohne sich Rechenschaft zu geben, bei
den unmittelbar angenommenen Meinungen beharrt, welche die
Instinkte und Bedürfnisse der Natur befriedigen, als auf einen
Menschen, der fähig ist, seine Ansichten nach den Schlüssen seiner
Logik zu verändern, die ihm im gegebenen Momente als unbestreitbare
Stimmen der Vernunft erscheinen. Bei solcher Anlage
wird der Mensch zum gehorsamen Knechte einer jeden Erwägung,
auf welche er augenblicklich nicht zu antworten weiß und
ergibt sich leicht mit seiner ganzen Weltanschauung bedingungslos
jeder neuen Weise logischer Argumentation über jeden beliebigen
Gegenstand. Er wird wehrlos jeder Theorie, jeder
Schlußfolgerung gegenüber, sobald er nicht selbst in der gegebenen
Minute wie sein Gegner über ein gleiches Arsenal
logischer Waffen verfügen kann. Der Syllogismus braucht nur
für das höchste, unbedingte Maß der Wahrheit gehalten zu werden
— und das wirkliche Leben gerät in Knechtschaft der abstrakten
Formel des vernünftelnden Denkens, der gesunde Verstand muß
sich der Leere und dem Unsinne unterwerfen, die die Waffen der
Formel führen, und die durch das Leben erprobte Kunst muß vor
der Deliberation des ersten besten jungen Mannes schweigen, dem
das Abc des formellen Disputs bekannt ist. Man kann sich
denken, was mit der Menge geschehen müßte, wenn es endlich
unseren Reformatoren gelänge, der Masse den Glauben an eine
unbedingte, leitende Bedeutung der logischen Denkformel einzuimpfen
. (S. 84, 85.)
---Der Glaube an eine unbedingte sittliche Wirkung der
Verstandesbildung, welchen die Tatsachen widerlegen, ist nichts
als ein a priori vorgefaßter, bis zur Torheit ausgedehnter Lehrsatz
. — (S. 93.)
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