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Kaindl: Freie Gedanken eines russischen Dogmatikers. 499
Grunde, im Halbdunkel; um diese nicht geklärten Ideen eben,
welche wir nicht imstande sind miteinander zu verbinden, bewegen
sich die klaren Gedanken, breiten sich aus, entwickeln und
erheben sich. Wenn wir von diesem Hintergrunde getrennt
würden, so würden in dieser Welt nur Geometer und verständige
Tiere übrig bleiben. Die exakten Wissenschaften selbst würden
in solch einer Welt ihre heutige Erhabenheit verlieren (haben
sie schon verloren!), die von ihren verdeckten Beziehungen zu
anderen unendlichen Wahrheiten abhängt, welche wir nur ahnen
und zeitweilig scheinbar durchschauen. Dieses Unbekannte ist
das teuerste Gut des Menschen: Nicht umsonst lehrt Plato, alles
in dieser Welt sei ein schwaches Bild der himmlischen Baukunst.
Es scheint sogar, daß die Hauptwirkung der sichtbaren Schönheit
in der Erweckung des Gedankens in uns an eine uns unsichtbare
Schönheit bestehe, und der Zauber, den z. B. Dichter hervorbringen
, nicht sowohl in den Bildern liegt, die sie in uns erscheinen
lassen, als in jenem entfernten Widerhall, den sie in uns erwecken
und der aus der Welt des Unsichtbaren stammt.
C a r u s in seiner bekannten Schrift: „Über die Seele"
(Psyche) sagt, daß der Schlüssel zum Verständnis des Wesens
des sich bewußten Seelenlebens in dem Gebiete des Unbewußten
liege. In seinem Buche erforscht er das gegenseitige Verhältnis
des Bewußten und des Unbewußten im menschlichen Leben und
spricht viel tiefe Gedanken aus. Das Göttliche in uns, sagt er,
was wir Seele nennen, ist nicht etwas in einem gewissen Momente
ein für allemal Festgewordenes, sondern etwas unaufhörlich sich
Veränderndes im beständigen Prozesse der Entwicklung, der Zerstörung
und Neubildung. Eine jede in die Zeit, tretende Erscheinung
ist eine Fortsetzung oder Entwicklung des Vergangenen
und birgt in sich die Ahnung des Zukünftigen. Das bewußte
Leben des Menschen scheidet sich in getrennte Augenblicke, und
dem Menschen isf nur eine trübe Vorstellung seines Seins in der
Ve *angenheit und in der Zukunft möglich, der gegenwärtige
Augenblick aber entschlüpft ihm, weil er kaum erschienen —
sehen in die Vergangenheit übergeht. Das Sammeln all dieser
Mc lente zur Einheit, zum Herstellen einer Gegenwart, d. h. das
Gewinnen eines wirklich festen Punktes zwischen dem Vergangenen
und dem Zukünftigen, ist nur möglich in dem Gebiete
des Unbewußten, d. h. da, wo es keine Zeit gibt, wohl aber eine
Ewigkeit. (S. 207, 209.)
Alte Einrichtungen, alte Überlieferungen, alte Sitten sind
Sachen von großer Bedeutung. Eine alte Einrichtung ist deshalb
so teuer — ist unersetzbar, weil sie nicht ausgedacht, sondern
durch das Leben geschaffen worden ist, weil sie aus dem vergangenen
Leben, aus der Geschichte entstanden und in der
Meinung des Volkes durch jene Autorität geheiligt ist, welche die
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