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500 Psychische Studien. XLII. Jahrg. 11. Heft. (November 1915.)
Geschichte — und nur die Geschichte — erzeugt. Diese Würde
kann durch nichts ersetzt werden, da ihre Wurzeln in jenem Teile
des Daseins liegen, in welchem die sittlichen Bande am festesten
geschlungen und am festesten gegründet sind — nämlich in dem
unbewußten Teile des Daseins. —
Die Menge eignet sich eine Idee nur unmittelbar durch das
Gefühl an, welches in ihr nicht anders erzogen und befestigt
werden kann, als durch die Geschichte, indem es ein Geschlecht
dem anderen, eine Generation der anderen überträgt. Die Tradition
kann wohl zerstört, aber nicht willkürlich erneut werden.
In der Tiefe alter Einrichtungen liegt oft eine tiefwahre,
direkt dem Grunde des Volksgeistes entquollene Idee, und wenn
es auch bisweilen schwer wird, diese Idee unter der Menge der
äußeren Auswüchse, Formen und Hüllen, die sie umgeben und
die für die neue Welt ihre ursprüngliche Bedeutung verloren
haben, zu erkennen und zu fassen, so erkennt sie das Volk doch
instinktiv und hält daher an den Einrichtungen, in den ihm gewohnten
Formen fest. Es verleidigt sie in den oft unförmlichen,
offenbar sinnlosen Hüllen, weil es instinktiv den Kern der unter
ihnen verborgenen Wahrheit schützt — schützt gegen leichtsinnige
Anschläge. Dieser Kern ist so überaus kostbar, weil in
ihm durch uralte Satzungen sich das ursprüngliche Bedürfnis des
Ge'stes ausgedrückt hat, weil in ihm die in der Tiefe des Geistes
verborgene Wahrheit sich spiegelt. Die rauhe Form — das Gebilde
äußerer Armut, rauher Gebräuche, grober Sitten — ist eine
vorübergehende und zufällige Erscheinung. Sobald sich die
Sitten zum Besseren wenden, wird auch die Form geistvoller, edler.
Lasset uns das Innere läutern, den Volksgeist heben, die Idee beleuchten
und zum Bewußtsein bringen — dann wird die rohe
Form von selbst zerfallen und einer neuen Platz machen, einer
vollkommeneren; das Äußere wird von selbst rein und einfach
werden. (S. 201, 202.)
Der ewige Streit in der Welt der menschlichen Einrichtungen
und Verhältnisse wird um die Freiheit geführt; aber wo ist sie
zu finden, diese Freiheit, wenn nicht — in der menschlichen
Seele? Überall erhebt sich der Verstand gegen die alten Autoritäten
und bestrebt sich, scheinbar der Freiheit halber, sie zu zerstören
, in der Tat aber, um an ihren Platz Autoritäten des Augenblickes
zu stellen, die heute erfunden wurden, vielleicht nur um
morgen anderen neuen Platz zu machen. — —
Man sagt uns: Werft das Joch des Gesetzes von euch; zerreißt
die alten Ketten der Tradition und werdet frei!
Welche Freiheit ist das dann aber, wenn zu gleicher Zeit
der gegenwärtige Status quo uns zum Gesetze gemacht wird und
sich auf uns als ein noch schwereres Joch, als das frühere war,
legt; wenn anstatt der unfehlbaren (?) und vom Geist erfüllten
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