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502 Psychische Stadien. XLII. Jahrg. 11. Heft. (November 1915).
scheint übrigens jedes intellektuelle System, das Hochmut, Unfehlbarkeitsdünkel
, Glaubenseifer und Unduldsamkeit entfaltet,
und das, ohne jede Rücksicht auf das Wohl und Weh anderer
Wesen, nur dem Menschen — und selbst diesem nur mit Einschränkungen
— ein Anrecht auf Leben und Lebensglück zuerkennt
.
Wie vom Standpunkt der intuitiven Erkenntnis die einseitige
Betätigung der Verstandeskräfte und deren Ergebnisse beurteilt
werden, erfahren wir bei A. J. Davis, der sich in seinen
„Penetralia" hierüber folgendermaßen äußert: „Die Logik oder
das Schlußverfahren ist oft der breite Weg, der auf beiden Seiten
der reinen Vernunft hinführt; und selten gelangt der Wanderer
direkt auf ihm ins Reich der Wahrheit.
Es gibt keinen schnelleren und sichereren Weg zum Irrtum, als
die Methode der logischen Schlußfolgerung. Die Sophisten beginnen
mit gewissen Prämissen und springen auf Schlüsse über;
sie treiben eine Art Gedankengaukelei und Taschenspielerei.
Fange das an, mein Freund, und du bist auf dem geraden Wege
zur Selbsttäuschung und Selbsterniedrigung. Es bleibt sich gleich,
wie glänzend deine Fähigkeiten auch sein mögen; am Ende des
Lebens wirst du doch nur einen verschwindend kleinen Rest von
Genugtuung besitzen."
Über den Unterschied zwischen intellektueller und intuitiver
Erkenntnis spricht sich Davis im „Reformator" aus. „Der
Intellekt**, sagt er darin, „hat keine innere Anschauung, keine
Voraussicht; er ermangelt der Kraft des Selbstdenkens, der Fähigkeit
Schlüsse zu ziehen, unabhängig von Daten oder von der Erinnerung
an Ursachen und Erfahrungen; aber in der Intuition
fühlt ihr den Geist der Natur und die Allgegenwart und Ewigkeit
der Wahrheit, sowie die Übereinstimmung mit ihr." Daß der
nach festen Prinzipien wirksame, mit ursprünglichen Qualitäten
ausgestattete Universalgeist der Natur sich auch im Individuum,
unabhängig von seiner sinnlichen Erfahrung und des hierauf gegründeten
Denkens, in einer jenen Prinzipien und Qualitäten entsprechenden
Weise, offenbaren kann, ja unter gewissen Bedingungen
sich offenbaren muß, ist eine so einfache und leicht
ergründliche Wahrheit, daß sich ihre Negation von seite des Verstandes
nur begreifen läßt, wenn man seine normale Funktion
als vom Egoismus beeinträchtigt annimmt. Eine Äußerung des
Universalgeistes in uns muß das instinktive Empfinden der Wahrheit
sein, welches sich der Unwahrheit gegenüber als Widerwille
äußert. Ohne dieses, dem Allgeiste in uns immanente Gefühl
für das Wahre ist der Verstand, wie ein führerloses Segelboot
dem Winde und den Wellen, den egoistischen Trieben und
Neigungen preisgegeben.
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