http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1915/0518
506 Psychische Studien. XLII. Jahrg. 11. Heft. (November 1915).
O. : Aber sie stützt sich doch eben auf die Vererbungslehre
und jene beiden Erklärungen sind jedenfalls diejenigen, die
am ehesten dem entsprechen, was wir heute eine wissenschaftliche
Erklärung nennen. Und sie haben eben eine große Stärke, die
zugleich ihre Schwäche ist: das Dunkel, in das bisher die ganze
Vererbungslehre gehüllt ist.
P h. : Das wird ja eines Tages durch die modernen Untersuchungen
völlig gelichtet werden.
0. : Wir wollen es hoffen; denn dann würde ja unsere
Frage völlig gelöst werden können. Bis dahin müssen wir jedenfalls
versuchen, ihr auf eine andere Weise beizukommen.
P h. : Welche sollte das wohl sein ?
0. : Wir müssen jedenfalls zunächst einmal feststellen, was
wir unter jenem Gefühl verstehen und wie es sich äußert. Ist es
nun ein Gefühl, das dem ähnlich ist, das wir die Liebe zu unsern
Eltern oder Verwandten nennen?
T h. : Das wohl nicht, sondern es ist ein Trieb, das Wohl
anderer zu fördern, und dieser Trieb äußert sich eben darin, daß
wir Befriedigung empfinden, wenn wir ihm nachgekommen sind.
0. : Und diese Befriedigung tritt ein, wenn wir ein solches
Werk getan haben, sei es nun, daß der Betreffende unserer Unterstützung
bedürftig war oder nicht?
T h. : Im ersteren Falle handelt es sich eben um die Befriedigung
, die wir über eine Handlung empfinden, welche aus
Mitleid entsprungen ist.
0. : Wir müssen also untersuchen, ob jene Befriedigung
nicht vielleicht einem anderen uns bekannten Triebe entspringt,
als jenem, den wir die Nächstenliebe genannt haben. Ist es nun
vielleicht denkbar, daß jemand seine Mitmenschen nur deshalb
fördert, weil er von ihnen gegebenenfalls das Gleiche erwartet?
P h. : Warum sollte das nicht möglich sein ?
0. : Und daß er darüber Befriedigung empfindet, weil
damit seine Eigenliebe befriedigt ist, indem er eben hofft, im
Falle der Not ebenfalls unterstützt zu werden?
T h. : Wie wäre es aber dann möglich, daß jenes Gefühl
der Befriedigung gerade das Gegenteil des Egoismus zu sein
scheint, während es doch diesem sein Dasein verdankte? Denn
man müßte doch meinen, daß sich jener Ursprung auch in seinem
Wesen zeigen müßte, wie die Kinder ihr ganzes Leben hindurch
erraten lassen, wie ihre Eltern gewesen sind?
0. : Vielleicht hat sich aber jene Gewohnheit vererbt und
ist so zum Triebe geworden, während sich ihr ursprünglicher
Charakter allmählich verloren hat?
T h. : Das müßte doch zum mindesten erst bewiesen werden
, und es will mir scheinen, daß auch dann noch jener Einwand
bestehen bliebe.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1915/0518