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Hänig: Jolanda Ein Gespräch über Religionspsychologie. 507
O. : Und jene andere Erklärung, die an die Energielehre
anknüpft, scheint Dir zu gekünstelt zu sein, als daß wir uns lange
bei ihr aufhalten könnten?
T h. : Das scheint sie mir allerdings zu sein.
O. : Und vielleicht besteht zwischen den beiden ersten Erklärungen
kein großer Unterschied, sondern die zweite ist nur die
Umkehrung der ersten. Da sind wir nun wieder bei dem Gegensatz
zwischen Egoismus und Altruismus angelangt, an dem unsere
natürliche Erklärung der Menschenliebe zu scheitern scheint.
Vielleicht finden wir aber auch noch andere Gefühle, die uns
ebenfalls denselben Widerstreit zeigen. Doch wir haben uns noch
nicht mit der Frage beschäftigt, wie die zusammengesetzten Gefühle
im Menschen, soweit sie religiös sind, zu erklären sind. Das
Mitleid entsteht also in uns durch die Liebe zu unseren Mitmenschen
und die Unlust, sie leiden zu sehen. Wie hatten wir
aber die Sehnsucht erklärt, die ebenfalls unter den religiösen Gefühlen
eine so große Rolle spielt?
T h. : Sie entsteht, wie wir sagten, aus der Lust und der
Liebe zum Unendlichen.
0. : Also etwas, das sich nicht mehr auf unsere Mitmenschen
bezieht, sondern auf das Außer- und Überirdische, das
wir außer uns wahrzunehmen glauben. Werden wir nun auch
hier eine natürliche Erklärung finden?
P h. : Das glaube ich wohl, denn die Liebe zum Unendlichen
isl doch nichts anderes als die Hoffnung darauf, und wir
haben doch festgestellt, daß auch die Hoffnung in religiösen
Dingen ihren Grund in dem Lebensgefühle des Menschen hat.
T h. : Zwischen der Liebe zum Unendlichen und der Hoffnung
darauf, ist aber doch ein wesentlicher Unterschied!
O. : Das mag wohl sein, aber wir müssen wieder wie vorhin
fragen, ob es nicht eine natürliche Erklärung dafür gibt. Vielleicht
könnte jemand eben mit Rücksicht auf jene Erklärung
sagen: Unser Lebenstrieb nötigt uns, diese oder jene Dinge in der
Welt zu erhoffen, die zur Förderung unseres Lebens zu dienen
scheinen, deshalb hoffen wir auch ein Leben in der Ewigkeit, da
diese für uns nur eine Steigerung des Irdischen bedeutet. Was
wir aber erhoffen, begehren und lieben wir, daher lieben wir auch
jenes höhere Leben, obgleich wir von ihm nur wenig wissen,
sondern nur auf den Flügeln der Sehnsucht zu ihm gelangen
können. Würde er damit nicht recht haben?
T h. : Vielleicht könnten wir ihm aber Dasselbe erwidern,
das wir schon an jener ersten Definition von der irdischen Liebe
auszusetzen hatten. —
O. : Jene Sehnsucht müßte dann doch, wenn jene Erklärung
richtig wäre, eine sehr egoistische sein, da die Liebe, durch
die sie entstünde» nur der Liebe zu dem eigenen Ich entsprungen
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